Stationen

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Vernunft als Leitfossil einer verflossenen Epoche

Ein letzter Mohikaner, Ulrich Sauer aus Karlsruhe, CDU-Mitglied seit 1960, hat auf der Regionalkonferenz in Heidelberg der Kanzlerin das Nötige ins Gesicht gesagt: „Frau Bundeskanzlerin, treten Sie zurück!“. Mit ihrer Flüchtlingspolitik habe Merkel dem Land eine Hypothek aufgeladen, die es so schnell nicht wieder los werde – „und wenn, dann sicher nicht mit Ihnen.“

Solche Sätze gehörten der Machtbrünstigen täglich um die Ohren gehauen: von den Parteigranden, der Bundestagsfraktion, der Opposition, der Presse. Doch die Parteiregie hatte vorgesorgt. Als nächster wurde ein Flüchtlingshelfer auf die Bühne gerufen, der einen kleinen afghanischen Jungen an der Hand hielt, der sich bei Merkel auf deutsch bedankte und vor Aufregung in Tränen ausbrach. Da hatten die Fotografen was Hübsches zu knipsen und die Journalisten was Schönes zu berichten. Die Politik wurde in Sentimentalität aufgelöst und mit moralischem Lustgewinn entsorgt.
Sie hört deswegen aber nicht auf. Der türkische Präsident Erdoğan kommentierte die – aktuell unkluge, strategisch richtige – Entschließung des Europaparlaments, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auszusetzen, daß er die „Tore aufmachen“ und Europa „mit Flüchtlingen fluten“ könnte. Das könnte er in der Tat. Die Türken müßten dazu das Flüchtlingsabkommen gar nicht kündigen. Eine geheime Anweisung an die Küstenwachen, wegzuschauen oder die Öffnung der Landgrenze nach Bulgarien würde genügen. Ganz unabhängig davon, ob Ankara noch ernsthaft an einer EU-Mitgliedschaft interessiert ist, hält es an der Forderung nach Visafreiheit für Türken unnachgiebig fest.
Merkel hat mit der Grenzöffnung, der faktischen Aufhebung des Dublin-Abkommens, mit der Erklärung, es gebe weder Obergrenzen noch einen effektiven Grenzschutz und mit ihren törichten Flüchtlingsselfies, die bis tief nach Afrika als Einladung verstanden wurden, die Vorlage für die Erpreßbarkeit Deutschlands und Europas gegeben.
Der Politikwissenschaftler Lothar Fritze schreibt im aktuellen Buch „Der böse gute Wille“, man könne ein Problem nicht lösen, „indem man Signale aussendet und Anreize schafft, die dieses Problem zum eigenen Nachteil massiv vergrößern und die Bereitschaft derer, die sich (…) an einer Lösung beteiligen sollen, senkt“. Das habe zu einer „asymmetrischen Abhängigkeit“ im deutsch-türkischen Verhältnis geführt.
Hier müßte eine substantielle Debatte über Merkel einsetzen. Aber wer soll sie führen? Statt selbständig denkender Außenpolitiker verfügt die Bundesrepublik über gläubige Transatlantiker, denen mit der Trump-Wahl auch noch ihr Kompaß abhanden gekommen ist. So bleibt Merkel unwidersprochen Kanzlerin und der Mohikaner in der CDU bloß ein Fossil.   Thorsten Hinz

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