Stationen

Dienstag, 23. August 2016

Unvoreingenommen

Wem nutzten die Verbote des privaten Waffenbesitzes?
Welche Bilder entstehen vor unserem geistigen Auge, wenn vom Wilden Westen die Rede ist? Und wie viele Zeitgenossen haben sich schon Gedanken darüber gemacht, dass kaum eine andere Vorstellung so sehr durch Roman und Filmkunst geformt wurde wie die vom Wilden Westen?

Der Begriff löst Phantasien aus, die von blutrünstigen, auf harmlose Siedlertrecks lauernden Rothäuten, mächtigen Rinderbaronen, korrupten Bürgermeistern und Sherrifs sowie ruhelos und einsam über endlose Prärien reitenden, schießwütigen Cowboys und Revolverhelden bestimmt sind. Jedermann schwer bewaffnet und keinen Moment zögernd, rücksichtslos seinen Colt oder seine Winchester einzusetzen, um sich den Weg freizuschießen. Es herrschen nackte Gewalt und ein durch kaum ein Gesetz eingeschränktes Recht des Stärkeren. Der Wilde Westen entspricht Hobbes’ Bild vom Menschen, der in einem brutalen „Naturzustand“ lebt, wo jeder des nächsten Wolf ist. Nach der vom Westernfilmgenre vermittelten Fiktion handelt es sich um einen Ort, an dem der Insasse des modernen Wohlfahrtsstaates sich niemals befinden möchte.

Allerdings hat das von Hollywood geschaffene Bild mit den realen Zuständen des Westens der Vereinigten Staaten in der Zeit von 1830 bis 1900 – also jener Periode, in der die meisten einschlägigen Filmproduktionen angesiedelt sind – so gut wie nichts zu tun. In einer 2004 erschienenen Untersuchung mit dem Titel „The Not So Wild, Wild West“ zeichnen die beiden Autoren Terry L. Anderson und P. J. Hill ein gänzlich anderes Bild. Zwar wird in ihrer Studie das Hauptaugenmerk auf ökonomische Zusammenhänge gelegt und die hohe Funktionalität und Effizienz der damals herrschenden kleinräumig organisierten, faktisch staatsfreien Ordnung hervorgehoben. Das Bild einer von Chaos, Gewalt und auf der Tagesordnung stehenden „Gunfights“ bestimmten Umwelt konnten sie indessen nicht bestätigen – ganz im Gegenteil. Die Zahl der gewaltsamen Todesfälle zu jener Zeit liegt sowohl absolut wie relativ unter derjenigen, die heute in den meisten Gegenden der USA zu verzeichnen ist. Jeder Großstädter dort trägt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein höheres Risiko, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden als ein Pionier zur Zeit des Wilden Westens.

Welche Bedeutung hatte der freie Zugang zu Schusswaffen im Hinblick auf Kriminalität und individuelle Sicherheit? Führt heute die „Verhinderung von Zuständen wie im Wilden Westen“ – namentlich ein restriktives Reglement des privaten Waffenbesitzes – zu einem Gewinn an individueller Sicherheit, wie das die meist steuerfinanzierten Anhänger uneingeschränkter Kontrolle aller Lebensbereiche durch den Staat behaupten? Oder trifft eher das Gegenteil zu? Ehe wir uns einer Würdigung der vorliegenden Daten widmen, zunächst zwei grundsätzliche Überlegungen:

Erstens: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Berufskrimineller und würden Ihren Lebensunterhalt durch räuberische Überfälle bestreiten. Dann wäre das Waffengesetz für Sie insofern belanglos, als Sie Ihre zur erfolgreichen Berufsausübung erforderlichen Gerätschaften wie Maschinenpistolen, Sturmgewehre oder abgesägte Flinten nicht beim konzessionierten Gewerbsmann erwerben, sondern auf dem Schwarzmarkt beschaffen würden. Sowohl alle politisch motivierten Verbrecher wie die von der RAF, der IRA oder den Roten Brigaden haben das getan, als auch unpolitische Gangster von Bonny und Clyde auf- oder abwärts. Auf ein waffenrechtliches Dokument würden Sie verzichten – ebenso wie auf den Zwang, der Behörde Ihre Ausrüstungsgegenstände en detail zu melden und routinemäßigen Kontrollen auszusetzen. Falls es Ihnen – Vorstrafen vorausgesetzt – überhaupt möglich wäre, auf legale Weise an Feuerwaffen zu kommen.
In anderer Hinsicht aber wäre das Waffengesetz für Sie durchaus bedeutsam: Da Sie nicht an Schießereien mit ihren Opfern interessiert wären, sondern an möglichst gefahrlos einzubringender Beute, wäre Ihnen die restriktivste aller Gesetzesvarianten – ein völliges Verbot des privaten Waffenbesitzes – hochwillkommen. In diesem Fall könnten sie mit totaler Wehrlosigkeit ihrer Opfer rechnen, da rechtschaffene Bürger nicht dazu neigen, sich illegal zu bewaffnen. Diese Überlegung lässt sich von der Sphäre der Gewaltanwendung durch Schwerkriminelle mühelos auf das Verhältnis des staatlichen Gewaltmonopols zum Bürger übertragen. Wen wird eine tyrannische Regierung vorziehen: den Waffen tragenden, selbstbewussten Citoyen oder den ihrem unermesslichen Ratschluss ohnmächtig ausgelieferten, entwaffneten Untertanen?
Zweitens: Dunblane, Columbine, Winnenden – wer kennt sie nicht, die Orte, deren Namen durch schreckliche Bluttaten traurige Berühmtheit erlangt haben? Jeder dieser Fälle zog tendenziös geführte Diskussionen der jeweiligen Waffengesetze nach sich und führte einmal, in Großbritannien, zu einem nahezu totalen Waffenverbot. In all diesen Fällen wurden von schwer bewaffneten Gewalttätern Massaker angerichtet und – faktenwidrig – als „Amokläufe“ qualifiziert. Tatsächlich handelte es sich um geplante Massenmorde, nicht um spontane Kurzschlusshandlungen. Was deshalb bedeutsam ist, weil der kühl planende Täter durch waffenrechtliche Regulative eben kaum von seinem Vorhaben abzuhalten ist.
Ist es Zufall, dass alle diese Katastrophen in „waffenfreien Zonen“ stattfanden, wo die Mörder mit keinerlei Gegenwehr zu rechnen hatten? Hätten die Ereignisse einen weniger tragischen Verlauf genommen, hätte es bewaffnete Gegenwehr gegeben? Warum hat noch niemals ein vergleichbarer „Amoklauf“ auf einem zivilen oder militärischen Schießplatz stattgefunden, wo Dutzende von Menschen zugegen sind, die mit ihren Waffen bestens vertraut sind? Warum gibt es in einem Land wie Israel, wo die Dichte an gesetzeskonform bewaffneten Bürgern höher ist als irgendwo sonst, niemals „Amokläufe“ à la Winnenden? Könnte es damit zu tun haben, dass um sich schießende Verbrecher in einem Umfeld von gleichfalls bewaffneten Opfern in kürzester Zeit selbst zum Ziel würden?
Es sind exakt diese Fragen, die stereotyp mit der Gegenfrage nach der Wünschbarkeit von „Zuständen wie im Wilden Westen“ gekontert werden. Der Tod unschuldiger Menschen durch die Hand von Gewalttätern ist in unserer von der fixen Idee des staatlichen Gewaltmonopols geprägten Zeit offenbar leichter zu ertragen als die Vorstellung von einem nicht obrigkeitlich gesteuerten bewaffneten Widerstand mündiger Bürger gegen mörderische Untaten von Kriminellen.
Ein von den Gegnern privater Bewaffnung als Reaktion auf das Faktum der relativen Sicherheit des „Wilden Westens“ gerne gebrauchtes Argument bezieht sich auf die geringe Bevölkerungsdichte dortselbst. Diese würde einen Vergleich mit den dicht besiedelten Ballungsräumen unserer Tage nicht erlauben.

Ein seltsam anmutendes Argument, das die von Zeit und Ort gänzlich unabhängig bestehende „Einsamkeit“ beinahe jedes Gewaltopfers außer Acht lässt. Auch in der nächtlichen Parkanlage oder in der U-Bahn moderner Großstädte ist ein Opfer gewalttätiger Übergriffe gewöhnlich auf sich alleine gestellt. Das Gewaltmonopol ist weit weg – jedenfalls nicht in dem Moment zur Stelle, an dem ein Verbrechensopfer dessen Schutzes bedürfte. Wer sonst – wenn nicht das Opfer selbst – könnte einer gewaltsamen Attacke daher wirksam Einhalt gebieten? Das Notwehrrecht kann nicht ernsthaft von der Einwohnerzahl je Quadratkilometer abhängig gemacht werden. Was in aller Welt hat also die Frage der Bevölkerungsdichte mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht, diese im Bedarfsfall wirksam zu schützen, zu tun? Welches Mittel – wenn nicht eine ausreichend wirkungsvolle Feuerwaffe – könnte einer zart gebauten Frau eine realistische Chance verschaffen, sich gegen mehrere sie attackierende kräftige Männer zu wehren?
Auch der gerne vorgebrachte Einwand, mittels privater Schusswaffen würde „Selbstjustiz“ betrieben, geht ins Leere. Im Fall einer akuten Bedrohungssituation geht es nicht um Rechtsprechung in eigener Sache, sondern ausschließlich um die Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung, für die etwa das Österreichische Strafgesetzbuch – erstaunlich genug – die Anwendung aller dafür zu Gebote stehenden Mittel erlaubt.

Der US-Ökonom John Lott hat unter dem Titel „More Guns, Less Crime (mehr Waffen, weniger Kriminalität)“ im Jahr 1998 eine Arbeit veröffentlicht, die – gestützt auf eine breite empirische Datenbasis – den Zusammenhang zwischen der legalen Verfügbarkeit von Schusswaffen und Gewaltkriminalität wie Mord, Raub, Überfall und Vergewaltigung untersucht. Um es knapp zusammenzufassen: Der Titel seiner Publikation zeigt das Ergebnis der Untersuchungen an: Liberalisierte Waffengesetze bringen einen Rückgang aller Arten von Gewaltkriminalität mit sich. Dieser ist als „nachhaltig“ zu bezeichnen, das heißt der erleichterte Zugang zu Feuerwaffen zieht einen über viele Jahre anhaltenden, kontinuierlichen Rückgang der Gewalttaten nach sich. Von einigen Autoren gegen Lotts Untersuchungen vorgebrachte Einwände – etwa gegen den angeblich ausgeblendeten Zusammenhang zwischen Drogendelikten und Schusswaffengebrauch – wurden durch inzwischen vorgelegte Folgeuntersuchungen widerlegt. Die empirischen Daten von Lott und Co. bestätigen die oben geäußerten theoretischen Überlegungen. Es fällt ins Auge, wenn Bundesstaaten mit einer restriktiven Schusswaffengesetzgebung – etwa New York mit einer Schusswaffendichte von nur 11 Prozent – bei einer hohen Mordrate von 13,2 pro 100.000 Einwohner landen, während Staaten mit extrem liberaler Waffengesetzgebung wie Vermont mit einer mehr als dreimal so hohen Waffendichte von 35 Prozent nur 0,7 Mordfälle pro 100.000 Einwohner zu verzeichnen haben.

Auch in Europa liefern die empirischen Daten den Gegnern privaten Waffenbesitzes keine Argumente. Franz Császár, Kriminologe vom Institut für Strafrecht der Universität Wien, ermittelte für die Schweiz, Österreich und Deutschland im Jahr 1993 folgende Daten: Im waffenrechtlich inzwischen sehr restriktiven Deutschland lag die Zahl der Schusswaffenmissbräuche pro 100.000 Einwohner mit 22 etwa dreimal so hoch wie im vergleichsweise weniger restriktiven Österreich (mit 7) und doppelt so hoch wie in der liberalen Schweiz (mit 11). Auch die häufig gehörte Ansicht, der Besitz von Schusswaffen sei deshalb so gefährlich, weil diese „ihrem Wesen nach zum Töten geschaffen“ seien, trägt nicht weit. Von Horst Decker 2005 in Deutschland und Franz Schmidt 2007 in Österreich durchgeführte Auswertungen der Gewaltverbrechensstatistik weisen andere Tatmittel als weitaus gefährlicher aus. So rangieren in beiden Untersuchungen Messer als Tatbegehungsmittel unangefochten an erster Stelle, Baseballschläger, Eisenstangen und Schraubenzieher immer noch weit vor legal erworbenen Schusswaffen. Der Frage, zu welchem Zweck ein Tatmittel ursprünglich gedacht war, ist – mit Blick auf das Los des Opfers einer Gewalttat – eine ausschließlich akademische Bedeutung zu bemessen.

Was Waffenverbote bringen, wird am Beispiel Großbritanniens deutlich: In den Jahren 2003 und 2004 wurden – lange nach dem im Gefolge des Dunblane-Massakers erlassenen totalen Schusswaffenverbot – 73 von insgesamt 833 Morden, also knapp neun Prozent, mittels Schusswaffen verübt. Im in waffenrechtlicher Hinsicht vergleichsweise liberalen Österreich liegt der Wert bei deutlich unter fünf Prozent. Auch dieses Beispiel zeigt wie so viele andere, wer die ausschließlichen Nutznießer einer Verbotsgesetzgebung sind, nämlich die Täter, die ihre Straftaten ausführen können, ohne wirksame Gegenwehr fürchten zu müssen. In einer Welt, in der der Waffenbesitz strafbar ist, verfügen nur noch Verbrecher über Waffen. Die gesetzlich verordnete Entwaffnung potenzieller Opfer ist daher tatsächlich eine zuverlässige Strategie zur Erhöhung der Sicherheit – jener von Gewaltverbrechern!  Andreas Tögel

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.