Fährt
man von dem memelländischen Städtchen Heydekrug, heute Šilutė, durch
das Memeldelta die sechs Kilometer zur Insel Ruß, dann stößt man auf
halbem Wege auf den litauischen Hinweis „Oto Bismarko“. Ein von Birken
gesäumter Weg führt von hier in das Rupkalwer Moor, das Hermann Sudermann in seinen „Litauischen Geschichten“ (1917) so anschaulich mit
dem Schicksal von Jons und Erdme beschrieben hat und von dem er sagt,
„daß man das Ende nirgends absehen kann“.
Seit 1905 hat der preußische
Staat hier Kolonisten angesiedelt.
Gleich hinter der Kreuzung treten vier Gebilde aus grauem Holz in
Erscheinung, von denen eins am ehesten einem Wohnhaus ähnelt, die
anderen drei scheinen Ställe zu sein. Alles wirkt so, als sei es aus dem
Moor emporgestiegen und würde in absehbarer Zeit wieder im Moor
versinken. Die Ställe sind windschief, die Fenster herausgeschlagen und
die Türen, sofern überhaupt noch vorhanden, hängen fast abgefallen in
den Angeln.
In einem seltsamen Widerspruch zu diesem Erscheinungsbild steht die
Tatsache, daß der Bewohner des Hauses offensichtlich über ein
Mobiltelefon verfügt. Auf Anruf reagiert er sofort und zeigt sich
keineswegs überrascht: „Kommt rein, kommt in die gute Stube.“
Es geht durch einen dem Zusammenbruch nahen Windfang, in dem
Tierfutter und zahllose Utensilien miteinander vermengt sind, in die
Küche, in der sich das Durcheinander noch steigert, und dann in die
„gute Stube“, in der ganz offensichtlich jegliche Ordnungsbemühungen von
vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Eine Frau ist nicht
vorhanden.
„Walter Wallenschuß, nicht Valteris Valenčius, ich bin Deutscher.“
Angesichts der 85 Jahre ein erstaunlich frisches Gesicht bei leidlicher
Rasur, klare blaue Augen und ein schmuddeliger Trainingsanzug.
Walter
spricht ein schriftreines Deutsch mit leichter ostpreußischer Färbung.
Auf dem Tisch liegen Ulla Lachauers „Paradiesstraße“, ein Zukunftsroman
von Hans Dominik und mehrere völlig zerlesene Zeitschriften, vor dem
Kachelofen eine Stihl-Motorsäge. In einer Ecke lagert ein Karton mit
Exemplaren des Memeler Dampfbootes.
Am 21. August 1931 sei er in diesem Hause geboren und er wolle auch
nicht daraus weg. Über die Zeit um 1945 spricht er offenbar nicht gerne.
Sein Vater habe an der Invasionsfront in der Normandie gestanden, und
die Wehrmacht habe ihn zusammen mit seiner Mutter in die Elchniederung
evakuiert, wo die Front über sie hinweggerollt sei. 1946 sei er mit
seiner Mutter in das alte Haus zurückgekehrt.
Fast kein Mensch war damals in der gesamten Umgebung. Bei ihrer
Rückkehr hätten die zwanzig Holzhäuser aus deutscher Zeit noch
gestanden. Mit der Zeit wären Menschen aus der weiteren Umgebung
gekommen und hätten alle übrigen Häuser als Brennholz abgerissen.
Überlebt habe er nur durch den Fischfang. Später habe er auch Fische
verkaufen können.
Daß die Litauer ihn als Deutschen angefeindet hätten, könne er
eigentlich nicht sagen, nur in einigen Fällen sei es so gewesen.
Furchtlos hat er sich dafür eingesetzt, daß die Straße vor seinem Haus
bereits in der Sowjetzeit offiziell wieder nach Bismarck benannt wird.
Seit dem 1. Januar 2016 erhält er 220 Euro Rente. Einmal in der Woche
kommt in der Abgeschiedenheit ein kleiner Lieferwagen vorbei und bringt
die notwendigen Lebensmittel, bisweilen auch Post.
Verbindung mit Deutschland habe er nur durch gelegentliche, doch
recht seltene Besucher. Und die ärztliche Versorgung? Vor kurzem sei er
wegen eines gebrochenen Beines im Krankenhaus gewesen, aber das habe ihm
nicht zugesagt. Er streift das linke Bein seiner speckigen
Trainingshose hoch. Ein lockerer, gräulicher Verband rutscht runter auf
seinen Knöchel und eine blutverkrustete offene Stelle wird sichtbar.
Anfang August hat ihn zusätzlich noch ein großes Unglück getroffen:
seine 25 Ziegen sind plötzlich verschwunden.
Man kann vermuten, daß sie in irgendwelchen Kochtöpfen verschwunden
sind oder auf entfernten Marktplätzen wieder auftauchen. Ein weiteres
periodisches Unglück nimmt Walter allerdings gelassen hin.
Von der Memel her wird das gesamte Gebiet regelmäßig überschwemmt.
„2015 war es nicht so schlimm, aber 2014“, und er zeigt einen Kalender,
in dem er in einem Boot vor seinem Haus abgebildet ist. An den
Verfärbungen der Hauswände sind die Wasserstände abzulesen. Und was
macht er, wenn das Wasser seine Lagerstätte, von Bett kann man
eigentlich nicht reden, erreicht? „Dann prüfe ich vom Bett aus mit der
linken Hand, wie hoch das Wasser ist, und muß notfalls das Bett höher
stellen.“
Heftig klagt er darüber, daß alle deutschen Sender auf Mittel- und
Langwelle abgeschaltet sind. Und an diesem Punkt wird Walter ganz
lebhaft, denn seine Leidenschaft sind Geschichte und Politik. Einmal
darauf angesprochen, ist er nicht mehr zu bremsen. Dabei erweist er sich
als unbeugsamer Revisionist. Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
erklärt er so, daß vielen in der Bundesrepublik die Haare zu Berge
stehen würden.
Aber Walter erweist sich als wohlinformiert und ist um Fakten nicht
verlegen. Und das gilt keineswegs nur für die Biographie von Hermann
Sudermann. Er hört ja nicht nur deutsche, sondern auch litauische,
polnische und russische Sender. Seine größte Sorge ist die „aggressive
Politik der USA gegenüber Rußland“, die uns in einen neuen Krieg stürzen
könne: „Die Polen haben nichts dazugelernt. Vor dem Zweiten Weltkrieg
ließen sie sich durch England mißbrauchen, und jetzt lassen sie sich
wieder durch Amerika mißbrauchen.“ Isoliert ist Walter zwar im Moor,
aber politisch keineswegs abgesackt.
Wie eine mythische, mit seiner Umgebung verwachsene Figur steht er
bei unserem Weggang da, gebeugt und auf einen Stock gestützt, aber immer
noch voller Lebenskraft. Zum Abschied reicht er die Hand. Deren Finger
sind infolge einer Verletzung steif. Das beim Abschied von in Ostpreußen
verbliebenen Deutschen gerufene „Kommt wieder!“ sagt er nicht. Doch
seine Augen lassen einen nicht los. Der letzte Bewohner der Moorkolonie
„Bismarck“.
JF 34/16
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