NNZ: Herr Ourghi, Sie sind kürzlich mit sehr scharfen Äusserungen über die muslimischen Dachverbände in Deutschland an die Öffentlichkeit getreten. Diese seien noch «meilenweit» von einem aufgeklärten Islam entfernt, duckten sich weg und stählen sich aus ihrer Verantwortung.
Ourghi: Die
religiöse und politische Sozialisation sehr vieler Muslime in
Deutschland in ihren Moscheevereinen ist, vereinfacht gesagt, geprägt
von einer Pädagogik der Unterwerfung, die in den türkischen und auch in
den arabischen Gemeinden durch sogenannte Import-Imame praktiziert wird.
Diese hat verheerende Folgen.
NNZ: Und diese Imame prägen wesentlich das Islam-Verständnis von
unzähligen jungen Muslimen in Deutschland . . .
Ourghi: So
ist es. Unsere Kinder werden durch den Koranunterricht aus ihrer
westlichen Lebenswelt herausgerissen. Den 970 türkischen Imamen in den
Ditib-Gemeinden, die in den meisten Fällen kein Deutsch sprechen, fehlt
zudem jeglicher pädagogische und didaktische Ansatz. Es geht ihnen in
erster Linie um die Weitergabe einer unreflektierten Tradition. Das ist
der religiöse Hintergrund. Der politische ist, dass diese Imame die
Aufgabe haben, die Beziehung der betreffenden türkischen Menschen zu
ihrer Heimat aufrechtzuerhalten.
NNZ: Sie haben von einer Mitverantwortung von Imamen und
Moscheevereinen bei der Radikalisierung eines Teils der jungen Muslime
gesprochen. Worin besteht diese?
Ourghi: Ich
bin davon überzeugt, dass einige Moscheen und Moscheevereine einen
massiven Beitrag zur islamistischen Radikalisierung leisten: Sie führen
die jungen Muslime gewissermassen auf diesen Weg. Ein entscheidender
Faktor ist der Umstand, dass sie durch ihr Wirken eine enorme Kluft
zwischen einer modernen und einer konservativ-religiösen Identität
herstellen. So findet eine Art Vorradikalisierung statt.
NNZ: Und wie verläuft dieser Prozess?
Ourghi: Ich
kann Ihnen konkret zwei Beispiele nennen. Von der Stadt Dinslaken sind
22 Jugendliche, die in Ditib-Gemeinden sozialisiert worden sind, in den
Jihad gezogen. Und auf der Website der Ditib-Gemeinde in Melsungen sind
im Jahre 2015 üble antisemitische Hetzparolen aufgetaucht. Man muss sich
da schon die Frage stellen, welche Rolle diese Dachverbände spielen.
Zum einen propagieren sie in ihren Gemeinden – zum Teil heimlich – einen
konservativen politischen Islam oder gar einen Gottesstaat. Anderseits
betonen sie in der Öffentlichkeit und gegenüber den Behörden und auch
Kirchenvertretern immer ihren Willen zum Dialog.
NNZ: Haben Sie Belege für Ihre Behauptung, dass ein Teil der
türkischen Imame und Vertreter von Moscheevereinen mit gespaltener Zunge
spricht?
Ourghi: Ich möchte
unterscheiden zwischen Imamen und den Wortführern der Ditib. Die Imame
sind im Allgemeinen darum bemüht, die Themen, die sie von Ankara
erhalten, in ihrer Freitagspredigt weiterzugeben. Die Vertreter der
Dachverbände sind meiner Ansicht nach hingegen Meister der Rhetorik und
der Verschleierung. Dafür gibt es unzählige Belege. Ich frage mich, ob
diese Dachverbände, die bloss 15 Prozent der Muslime in Deutschland
vertreten, wirklich die richtigen Ansprechpartner für Behörden und
Kirchen sind.
Mir scheint es sehr wichtig, dass wir über Texte, die Gewalt legitimieren, offen und kritisch debattieren.
NNZ: Sie haben gesagt, muslimische Dachverbände duckten sich weg und
stählen sich aus ihrer Verantwortung. Wie könnten sie denn ihre Verantwortung
wahrnehmen?
Ourghi: In unseren
westlichen Gesellschaften hat die Etablierung eines aufgeklärten,
modernen und humanistischen Islam erste Priorität. Den Dachverbänden
geht es hingegen fast ausschliesslich um den Erhalt der Religion, und
sie sind nicht in der Lage, mit einem kritikfähigen Diskurs die heiklen
Themen – etwa die Frage der religiös legitimierten Gewalt – in den
Gemeinden anzusprechen. Wir dürfen einfach nicht mehr länger behaupten,
der Islam sei eine friedliche Religion. Die Realität spricht eine andere
Sprache: Im Namen dieser Religion werden weltweit Gewalttaten verübt.
Das erstaunt nicht, finden wir doch sowohl im Koran wie auch in der
Sunna und in der klassischen islamischen Theologie eigentliche
Handlungsanleitungen zur Anwendung von Gewalt. Die Dachverbände hingegen
behaupten unbeirrt das Gegenteil. Sie stehen vielmehr in der
Verantwortung, gewisse Koranverse – etwa die sogenannten «Schwertverse»
[Koran 9:29] – in ihren Gemeinden offen zu debattieren.
NNZ: Wie lässt sich mit diesen problematischen Suren umgehen?
Ourghi: Ich
unterscheide zwischen den Suren, die zwischen 610 und 622 in Mekka
offenbart wurden, und den in Medina zwischen 622 und 632 offenbarten
Suren. In Medina war Mohammed bekanntlich nicht nur der Verkünder einer
Religion, sondern auch ein Staatsmann, der die Macht des Wortes und die
Gewalt des Schwertes bestens vereinte. Unterstützt durch autoritative
Koranstellen ergriff er militärische Massnahmen gegen seine Widersacher,
wie etwa die arabischen Heiden, die Dichter und die Juden. Mir scheint
es sehr wichtig, dass wir über diese Texte, die Gewalt legitimieren,
offen und kritisch debattieren. Denn auch die Extremisten beziehen sich
genau auf diese Koranpassagen.
NNZ: Sie haben kürzlich gefordert, es brauche drastische Massnahmen.
Woran denken Sie?
Ourghi: Ich plädiere
für eine strikte Kontrolle aller «ferngesteuerten» Moscheen. Wichtig
ist zudem, die Freitagspredigten auf Deutsch zu halten und den «Import»
von Imamen so rasch als möglich zu stoppen. Ferner muss die Finanzierung
von Moscheevereinen, Stiftungen und Dachverbänden aus dem Ausland sehr
kritisch unter die Lupe genommen werden.
NNZ: Die Beziehung zwischen Ihnen und den etablierten
Verbandsvertretern scheint sehr belastet zu sein. Murat Kayman spricht etwa von
den «selbstermächtigten, liberalen Reformavantgardisten». Ist da ein Dialog
überhaupt möglich?
Ourghi: Ich habe
den Eindruck, dass die Dachverbände – sowohl der Zentralrat der Muslime
wie auch der Ditib – noch nicht zu einem Dialog bereit sind. Wir
versuchen dies seit einiger Zeit, aber wir werden abgelehnt. Sie haben
wohl Angst, mit uns zu reden, weil uns dies legitimieren könnte.
NNZ: Sie sind so weit gegangen zu sagen, der Islam der grossen
Dachverbände gehöre nicht zu Deutschland . . .
Ourghi: Richtig.
Dieser Islam der Unterwerfung, der fehlenden Kritikfähigkeit gehört in
der Tat weder zu Deutschland noch zu Europa. Immanuel Kant hat vor mehr
als 200 Jahren dazu aufgefordert, den eigenen Verstand ohne fremde
Anleitung zu benützen. Genau dies sollten wir Muslime auch in Bezug auf
den Islam tun. Wir sollten hier in Europa nicht Angst haben, weder den
Islam sowie die Tradition des Propheten zu kritisieren noch den
Propheten selber. In der Sure 18:110 heisst es: «Ich bin auch nur ein
Mensch wie ihr», deshalb darf der Prophet auch kritisiert werden.
NNZ: Sie fordern nicht nur entschieden eine Reform des Islam, sondern
Sie sagen auch, eine solche Reform sei ein «Geschenk» für den Islam. Weshalb?
Ourghi: Schauen
Sie: Wir können uns nicht entwickeln ohne eine Kritik. Für mich als
humanistisch gesinnten Muslim bedeutet eine solche Kritik nicht eine
pauschale Ablehnung des Islam, sondern vielmehr eine Art
Liebeserklärung. Ich plädiere für die Autonomie des Korantextes und die
Freiheit der Auslegung, und diese Auslegung muss einen Bezug zur
heutigen Lebenswelt haben. Wir dürfen nicht einfach verschiedene
Auslegungen und Kommentare zum Koran aus lange zurückliegenden Epochen
auf unsere heutige Zeit übertragen.
NNZ: Sie fordern nicht nur eine historisch-kritische Lesart des
Korans, sondern auch, die mekkanischen Suren anders zu werten als die
medinensischen?
Ourghi: Diese
Forderung stammt ursprünglich von Mahmud Taha, einem sudanesischen
Gelehrten, der 1985 hingerichtet worden ist, weil er in seinem Buch mit
dem Titel «Die zweite Botschaft» die unterschiedliche Wertung dieser
beiden Teile des Korans gefordert hat. Seines Erachtens gilt nur der in
Mekka offenbarte Koran (610–622) als zeitlos, weil er universal
sinnstiftende Lehren im ethischen Sinne enthalte. Dagegen habe Muhammad
als Staatsmann einer irdischen Gemeinde in Medina (622–632)
situationsbedingte Koranstellen verkündet, die in ihrem historischen
Wirkungskontext zu begreifen seien.
NNZ: Diese Meinung dürfte unter Theologen in der islamischen Welt in
keiner Art und Weise mehrheitsfähig sein . . .
Ourghi: Das stimmt. Doch es gibt einzelne Reformer, die diese These unterstützen. Ich nenne nur Mohamed Arkoun und den syrischen Reformer Mohamed Chahrour. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.
Ein Islam ohne mutige Islamkritik ist zum Scheitern verurteilt – vor allem im Westen
NNZ: Ist es für den Islam unumgänglich, sich zu reformieren, wenn er
im 21. Jahrhundert eine positive Rolle spielen soll?
Ourghi: Davon
bin ich überzeugt. Zum Glück können wir uns dabei auch auf den Koran
abstützen. Es gibt Verse, etwa die Sure 11:88, in denen es heisst: «Ich
will nicht anders als reformieren, soweit ich kann.» Wir haben also
einen theoretischen Ansatz in unseren kanonischen Quellen für das, was
ich als die «Reformwahrheit» des Islam bezeichnen möchte. Die Mehrheit
der Muslime, auch im Westen, haben aber Angst vor der Reform des Islam;
sie leiden unter der Paranoia, dass sie dadurch ihre eigene Religion
verlieren könnten.
NNZ: Muslimische Intellektuelle wie Sie, die eine so verstandene
Reform des Islam anstreben, müssen in Europa einen Vielfrontenkrieg führen:
gegen muslimische Verbandsvertreter, aber teilweise auch gegen
Islamwissenschafter...
Ourghi: Einige
Islamwissenschafter unterstützen uns durchaus, andere – ich möchte sie
als «Museumsführer» bezeichnen – haben einfach Angst um ihr Fach. Wir
haben leider oft auch Linke gegen uns, die sich für den «Islam»
einsetzen, ohne zu wissen, worum es geht. Ein Islam ohne mutige
Islamkritik ist zum Scheitern verurteilt – vor allem im Westen.
NNZ: Haben Sie selber schon Drohungen erhalten?
Ourghi: Im letzten Jahr habe ich in der Tat einen Drohbrief erhalten.
Das war ein Schock, und seither hat sich mein Leben etwas verändert. Murat
Kayman, der Ditib-Koordinator, hat mich zudem als Ibadit bezeichnet. Das ist für
die meisten Muslime ein Schimpfwort; Ibaditen gelten als Apostaten und damit de
facto als vogelfrei. Das macht mir Angst, und manchmal überlege ich mir schon,
ob es nicht besser wäre zu schweigen.
NNZ: Ihre Familie stammt aus Tlemcen, einer Stadt im Westen Algeriens,
die als Hochburg des Sufismus gilt. Sind Sie geprägt von dieser Tradition?
Ourghi: Beim
Sufismus geht es in erster Linie um die Individualität des Glaubens.
Persönlich bin ich auch immer wieder berührt vom grossen Mystiker Ibn
Arabi. Vor allem bin ich aber meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie
mir erlaubt haben, mich so zu entwickeln, wie ich es für richtig
gehalten habe, und auf diesem Weg meine eigene Identität zu entdecken
und zu fördern. NZZ
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