Stationen

Samstag, 27. August 2016

Abdel-Hakim Ourghi zum verhehrenden Einfluss der Dachverbände





NNZ: Herr Ourghi, Sie sind kürzlich mit sehr scharfen Äusserungen über die muslimischen Dachverbände in Deutschland an die Öffentlichkeit getreten. Diese seien noch «meilenweit» von einem aufgeklärten Islam entfernt, duckten sich weg und stählen sich aus ihrer Verantwortung.
Ourghi: Die religiöse und politische Sozialisation sehr vieler Muslime in Deutschland in ihren Moscheevereinen ist, vereinfacht gesagt, geprägt von einer Pädagogik der Unterwerfung, die in den türkischen und auch in den arabischen Gemeinden durch sogenannte Import-Imame praktiziert wird. Diese hat verheerende Folgen.
NNZ: Und diese Imame prägen wesentlich das Islam-Verständnis von unzähligen jungen Muslimen in Deutschland . . .
Ourghi: So ist es. Unsere Kinder werden durch den Koranunterricht aus ihrer westlichen Lebenswelt herausgerissen. Den 970 türkischen Imamen in den Ditib-Gemeinden, die in den meisten Fällen kein Deutsch sprechen, fehlt zudem jeglicher pädagogische und didaktische Ansatz. Es geht ihnen in erster Linie um die Weitergabe einer unreflektierten Tradition. Das ist der religiöse Hintergrund. Der politische ist, dass diese Imame die Aufgabe haben, die Beziehung der betreffenden türkischen Menschen zu ihrer Heimat aufrechtzuerhalten.
NNZ: Sie haben von einer Mitverantwortung von Imamen und Moscheevereinen bei der Radikalisierung eines Teils der jungen Muslime gesprochen. Worin besteht diese?
Ourghi: Ich bin davon überzeugt, dass einige Moscheen und Moscheevereine einen massiven Beitrag zur islamistischen Radikalisierung leisten: Sie führen die jungen Muslime gewissermassen auf diesen Weg. Ein entscheidender Faktor ist der Umstand, dass sie durch ihr Wirken eine enorme Kluft zwischen einer modernen und einer konservativ-religiösen Identität herstellen. So findet eine Art Vorradikalisierung statt.
NNZ: Und wie verläuft dieser Prozess?
Ourghi: Ich kann Ihnen konkret zwei Beispiele nennen. Von der Stadt Dinslaken sind 22 Jugendliche, die in Ditib-Gemeinden sozialisiert worden sind, in den Jihad gezogen. Und auf der Website der Ditib-Gemeinde in Melsungen sind im Jahre 2015 üble antisemitische Hetzparolen aufgetaucht. Man muss sich da schon die Frage stellen, welche Rolle diese Dachverbände spielen. Zum einen propagieren sie in ihren Gemeinden – zum Teil heimlich – einen konservativen politischen Islam oder gar einen Gottesstaat. Anderseits betonen sie in der Öffentlichkeit und gegenüber den Behörden und auch Kirchenvertretern immer ihren Willen zum Dialog.
NNZ: Haben Sie Belege für Ihre Behauptung, dass ein Teil der türkischen Imame und Vertreter von Moscheevereinen mit gespaltener Zunge spricht?
Ourghi: Ich möchte unterscheiden zwischen Imamen und den Wortführern der Ditib. Die Imame sind im Allgemeinen darum bemüht, die Themen, die sie von Ankara erhalten, in ihrer Freitagspredigt weiterzugeben. Die Vertreter der Dachverbände sind meiner Ansicht nach hingegen Meister der Rhetorik und der Verschleierung. Dafür gibt es unzählige Belege. Ich frage mich, ob diese Dachverbände, die bloss 15 Prozent der Muslime in Deutschland vertreten, wirklich die richtigen Ansprechpartner für Behörden und Kirchen sind.
Mir scheint es sehr wichtig, dass wir über Texte, die Gewalt legitimieren, offen und kritisch debattieren.
NNZ: Sie haben gesagt, muslimische Dachverbände duckten sich weg und stählen sich aus ihrer Verantwortung. Wie könnten sie denn ihre Verantwortung wahrnehmen?
Ourghi: In unseren westlichen Gesellschaften hat die Etablierung eines aufgeklärten, modernen und humanistischen Islam erste Priorität. Den Dachverbänden geht es hingegen fast ausschliesslich um den Erhalt der Religion, und sie sind nicht in der Lage, mit einem kritikfähigen Diskurs die heiklen Themen – etwa die Frage der religiös legitimierten Gewalt – in den Gemeinden anzusprechen. Wir dürfen einfach nicht mehr länger behaupten, der Islam sei eine friedliche Religion. Die Realität spricht eine andere Sprache: Im Namen dieser Religion werden weltweit Gewalttaten verübt. Das erstaunt nicht, finden wir doch sowohl im Koran wie auch in der Sunna und in der klassischen islamischen Theologie eigentliche Handlungsanleitungen zur Anwendung von Gewalt. Die Dachverbände hingegen behaupten unbeirrt das Gegenteil. Sie stehen vielmehr in der Verantwortung, gewisse Koranverse – etwa die sogenannten «Schwertverse» [Koran 9:29] – in ihren Gemeinden offen zu debattieren.
NNZ: Wie lässt sich mit diesen problematischen Suren umgehen?
Ourghi: Ich unterscheide zwischen den Suren, die zwischen 610 und 622 in Mekka offenbart wurden, und den in Medina zwischen 622 und 632 offenbarten Suren. In Medina war Mohammed bekanntlich nicht nur der Verkünder einer Religion, sondern auch ein Staatsmann, der die Macht des Wortes und die Gewalt des Schwertes bestens vereinte. Unterstützt durch autoritative Koranstellen ergriff er militärische Massnahmen gegen seine Widersacher, wie etwa die arabischen Heiden, die Dichter und die Juden. Mir scheint es sehr wichtig, dass wir über diese Texte, die Gewalt legitimieren, offen und kritisch debattieren. Denn auch die Extremisten beziehen sich genau auf diese Koranpassagen.
NNZ: Sie haben kürzlich gefordert, es brauche drastische Massnahmen. Woran denken Sie?
Ourghi: Ich plädiere für eine strikte Kontrolle aller «ferngesteuerten» Moscheen. Wichtig ist zudem, die Freitagspredigten auf Deutsch zu halten und den «Import» von Imamen so rasch als möglich zu stoppen. Ferner muss die Finanzierung von Moscheevereinen, Stiftungen und Dachverbänden aus dem Ausland sehr kritisch unter die Lupe genommen werden.
NNZ: Die Beziehung zwischen Ihnen und den etablierten Verbandsvertretern scheint sehr belastet zu sein. Murat Kayman spricht etwa von den «selbstermächtigten, liberalen Reformavantgardisten». Ist da ein Dialog überhaupt möglich?
Ourghi: Ich habe den Eindruck, dass die Dachverbände – sowohl der Zentralrat der Muslime wie auch der Ditib – noch nicht zu einem Dialog bereit sind. Wir versuchen dies seit einiger Zeit, aber wir werden abgelehnt. Sie haben wohl Angst, mit uns zu reden, weil uns dies legitimieren könnte.
NNZ: Sie sind so weit gegangen zu sagen, der Islam der grossen Dachverbände gehöre nicht zu Deutschland . . .
Ourghi: Richtig. Dieser Islam der Unterwerfung, der fehlenden Kritikfähigkeit gehört in der Tat weder zu Deutschland noch zu Europa. Immanuel Kant hat vor mehr als 200 Jahren dazu aufgefordert, den eigenen Verstand ohne fremde Anleitung zu benützen. Genau dies sollten wir Muslime auch in Bezug auf den Islam tun. Wir sollten hier in Europa nicht Angst haben, weder den Islam sowie die Tradition des Propheten zu kritisieren noch den Propheten selber. In der Sure 18:110 heisst es: «Ich bin auch nur ein Mensch wie ihr», deshalb darf der Prophet auch kritisiert werden.
NNZ: Sie fordern nicht nur entschieden eine Reform des Islam, sondern Sie sagen auch, eine solche Reform sei ein «Geschenk» für den Islam. Weshalb?
Ourghi: Schauen Sie: Wir können uns nicht entwickeln ohne eine Kritik. Für mich als humanistisch gesinnten Muslim bedeutet eine solche Kritik nicht eine pauschale Ablehnung des Islam, sondern vielmehr eine Art Liebeserklärung. Ich plädiere für die Autonomie des Korantextes und die Freiheit der Auslegung, und diese Auslegung muss einen Bezug zur heutigen Lebenswelt haben. Wir dürfen nicht einfach verschiedene Auslegungen und Kommentare zum Koran aus lange zurückliegenden Epochen auf unsere heutige Zeit übertragen.
NNZ: Sie fordern nicht nur eine historisch-kritische Lesart des Korans, sondern auch, die mekkanischen Suren anders zu werten als die medinensischen?
Ourghi: Diese Forderung stammt ursprünglich von Mahmud Taha, einem sudanesischen Gelehrten, der 1985 hingerichtet worden ist, weil er in seinem Buch mit dem Titel «Die zweite Botschaft» die unterschiedliche Wertung dieser beiden Teile des Korans gefordert hat. Seines Erachtens gilt nur der in Mekka offenbarte Koran (610–622) als zeitlos, weil er universal sinnstiftende Lehren im ethischen Sinne enthalte. Dagegen habe Muhammad als Staatsmann einer irdischen Gemeinde in Medina (622–632) situationsbedingte Koranstellen verkündet, die in ihrem historischen Wirkungskontext zu begreifen seien.
NNZ: Diese Meinung dürfte unter Theologen in der islamischen Welt in keiner Art und Weise mehrheitsfähig sein . . .
Ourghi: Das stimmt. Doch es gibt einzelne Reformer, die diese These unterstützen. Ich nenne nur Mohamed Arkoun und den syrischen Reformer Mohamed Chahrour. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.
Ein Islam ohne mutige Islamkritik ist zum Scheitern verurteilt – vor allem im Westen
NNZ: Ist es für den Islam unumgänglich, sich zu reformieren, wenn er im 21. Jahrhundert eine positive Rolle spielen soll?
Ourghi: Davon bin ich überzeugt. Zum Glück können wir uns dabei auch auf den Koran abstützen. Es gibt Verse, etwa die Sure 11:88, in denen es heisst: «Ich will nicht anders als reformieren, soweit ich kann.» Wir haben also einen theoretischen Ansatz in unseren kanonischen Quellen für das, was ich als die «Reformwahrheit» des Islam bezeichnen möchte. Die Mehrheit der Muslime, auch im Westen, haben aber Angst vor der Reform des Islam; sie leiden unter der Paranoia, dass sie dadurch ihre eigene Religion verlieren könnten.
NNZ: Muslimische Intellektuelle wie Sie, die eine so verstandene Reform des Islam anstreben, müssen in Europa einen Vielfrontenkrieg führen: gegen muslimische Verbandsvertreter, aber teilweise auch gegen Islamwissenschafter...
Ourghi: Einige Islamwissenschafter unterstützen uns durchaus, andere – ich möchte sie als «Museumsführer» bezeichnen – haben einfach Angst um ihr Fach. Wir haben leider oft auch Linke gegen uns, die sich für den «Islam» einsetzen, ohne zu wissen, worum es geht. Ein Islam ohne mutige Islamkritik ist zum Scheitern verurteilt – vor allem im Westen.
NNZ: Haben Sie selber schon Drohungen erhalten?
Ourghi: Im letzten Jahr habe ich in der Tat einen Drohbrief erhalten. Das war ein Schock, und seither hat sich mein Leben etwas verändert. Murat Kayman, der Ditib-Koordinator, hat mich zudem als Ibadit bezeichnet. Das ist für die meisten Muslime ein Schimpfwort; Ibaditen gelten als Apostaten und damit de facto als vogelfrei. Das macht mir Angst, und manchmal überlege ich mir schon, ob es nicht besser wäre zu schweigen.
NNZ: Ihre Familie stammt aus Tlemcen, einer Stadt im Westen Algeriens, die als Hochburg des Sufismus gilt. Sind Sie geprägt von dieser Tradition?
Ourghi: Beim Sufismus geht es in erster Linie um die Individualität des Glaubens. Persönlich bin ich auch immer wieder berührt vom grossen Mystiker Ibn Arabi. Vor allem bin ich aber meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie mir erlaubt haben, mich so zu entwickeln, wie ich es für richtig gehalten habe, und auf diesem Weg meine eigene Identität zu entdecken und zu fördern.  NZZ

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