Kommende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – und wenn es nicht
mehr ist als das Wörtchen Du, mit dem man sich im
375.000-Mitarbeiter-Reich der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) seit
wenigen Wochen untereinander anreden darf, nein: soll. Gruppenchef
Gehrig ist jetzt der Klaus, Lidl-Chef Seidel der Sven und Kaufland-Chef
Kaudewitz der Patrick.
Das distanzierte Sie nach alter deutscher Sitte fällt unter den
Tisch; höchstens nach der Kündigung wird es wieder hervorgeholt. Und das
Ganze ist mehr als eine Fußnote. Wenn so ein beinharter Laden wie die
Neckarsulmer Discounter-Gruppe (weiter weg vom Prenzlberg geht nicht)
sich derartigen Flausen öffnet, denken die sich was dabei.
Wie Olof Palme, der Ende Oktober 1969, einen Tag nach der Ernennung
zum schwedischen Ministerpräsidenten, im Fernsehen sinngemäß sagte: Ihr
könnt jetzt alle Du zu mir sagen. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich
noch gut an den distinguierten älteren Herren aus Stockholm, der am
Morgen drauf in seiner angestammten Bäckerei nicht das gewohnte „Herr
Graf wünschen?“, sondern „Was kann ich Dir verkaufen?“ zu hören bekam.
Keine Frage, daß er die Haltung wahrte. Aber zu schlucken hatte er doch.
Wenn Bäcker und Discounter sich in existentiellen gesellschaftlichen
Fragen – und die Frage der gegenseitigen Anrede ist gesellschaftlich
existentiell – outen und die Seite wechseln, ist der Zug abgefahren.
Klaus, Sven und Patrick mögen sich dessen nicht bewußt sein, aber ihre
Entscheidung ist der letzte Strich am Sieg der Achtundsechziger, am Sieg
über die deutsche bürgerliche Gesellschaft, die von ihren
aristokratischen Vorgängern neben der politischen Macht auch mit allen
Nickeligkeiten der Rang- und Standesunterschiede belehnt worden war.
Daß ausgerechnet die Nachfahren der Handlungsgehilfen, denen vor
hundert Jahren bestenfalls eine Hochstapler-Karriere à la Felix Krull
offenstand, dem bürgerlichen Herkommen jetzt das Licht ausknipsen,
sticht ins Herz. Oder ist es nur die Quittung dafür, daß diese
abtretende Gesellschaftsschicht einer ehemaligen sozialistischen
Parteisekretärin erlaubte, ihre angestammte politische Plattform, CDU
genannt, ohne Federlesens zu kapern und in die Bedeutungslosigkeit zu
führen?
Das Undenkbare wird wahr: Wir werden Du zueinander sagen. Ikea tut
das heute schon, und die Verkäuferin im feinen Möbelladen an der
Französischen Straße in Berlin auch. Spätestens in fünf oder zehn Jahren
wird der neue Brauch flächendeckend Usus sein. Nach dem Erzen
verschwindet bald das Siezen im Schlund der Vergangenheit. Die Anrede in
der dritten Person bleibt allenfalls königlichen Hoheiten oder
weißhaarigen Professoren und Professorinnen vorbehalten. Wetten? Unsere
Kinder werden schon gar nicht mehr verstehen, warum es je anders war.
Gleichzeitig mit dem Sie verschwindet ein weiteres Attribut des
Bürgertums: die Krawatte. An erste Anzeichen erinnern wir uns zu Zeiten
des Yuppie-Phänomens in den USA. In den frühen Neunzigern strahlte der
aufstrebende Bertelsmann-Vorstand und spätere Pleitier Thomas Middelhoff
bei Geschäftsmeetings mit offenem Hemdkragen in die Objektive. Nach dem
Platzen der Dotcom-Blase 2000 verdunstete dann der Übermut, die
Knopfleisten verschwanden wieder unter gemusterter Seide.
Seither dreht sich die Stimmung jedoch. Auf ein begrenztes Maß an
Verunsicherung reagiert der Mensch mit Festhalten am Überkommenen und
Gewohnten. Werden Krise und Bedrohungsgefühle hingegen übermächtig,
reift plötzlich die Bereitschaft zu radikalem Wechsel, zum Neubeginn.
Noch ist der Krawattenverzicht ein Elitenprojekt, angeführt von
Kreativen und Lichtgestalten wie dem Daimler-Chef Dieter Zetsche. Was
signalisiert er mit seinem offenen Hemdkragen bei der
Bilanzpressekonferenz: In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg
den Tod?
Die Berater im Vorstadt-Möbelhaus präsentieren sich weiterhin
geschniegelt und gestriegelt im dunklen Anzug – die Bedienung im edlen
Berliner Kaufhaus des Westens kommt im trendy schwarzen Outfit schon
ohne Krawatte zur Arbeit. Das ist beim Schwenk zum Du anders, der
beginnt in der Mitte der Gesellschaft, bei den Bäckern und Discountern.
Angela Merkel duzt angeblich nur fünf ihrer Minister, Finanzminister
Schäuble keinen einzigen Kollegen.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wo der Wind der Veränderung weht,
kann man Mauern bauen oder Windmühlen. Je nach Veranlagung werden wir
das eine oder das andere tun. Daß Veränderungen in der Luft liegen,
schwerwiegende, endgültige, werden die Wenigsten bezweifeln. Wenn die
Folgen sich auf den Verlust des Sie und der Krawatte beschränken, kommen
wir noch gut dabei weg. Thomas Fasbender
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