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Sonntag, 21. August 2016

Immerhin wollen sich alle 4 Jahre tatsächlich alle friedlich zu einem gemeinsamen Sportfest treffen

Die „olympische Idee“ ist eine Schimäre, bestenfalls ein frommer Selbstbetrug von letzten Idealisten. Die Faszination des Sports kommt aus banaleren und elementareren Quellen. Im Stadion oder vorm Fernseher erlebt der moderne Mensch, das gezähmte Haustier, jene Heldengeschichten, Leidenschaften, Spannungsmomente und Tragödien, die ihm die Lebenswirklichkeit längst verwehrt.

Der Zeitdiagnostiker Karl Jaspers stellte 1932 denn auch keinen Vergleich mit den Olympischen Spielen im antiken Griechenland mehr an, sondern bezog sich auf die grausamen Schaukämpfe im alten Rom. Stets schwinge beim Zuschauer „der Genuß an Gefahr und Vernichtung des dem Einzelnen persönlich fernen Menschen“ mit.
Die „Ekstase für gefährliche Sportleistungen“ stelle die verlorengegangene Verbindung zum Archaischen, zum „Verrückten, Primitiven, Undurchsichtigen“ wieder her. Der Mensch wolle „der Helligkeit des rationalen Daseins“ entrinnen, „wo das Schicksal aufhört“, die Existenz langweilig und „absolut geheimnislos“ sei. Der Sport verschaffe ihm den „lockenden Anblick exzentrischer Möglichkeiten. Der Apparat sorgt für seine Befriedigung.“
Olympia oder der Fußball sind besonders geeignet, um Emotionen, menschliche Bedürfnisse und Triebe zu bändigen, zu kanalisieren oder hervorzurufen; um sich in einem frenetischen Rahmen zu präsentieren – oder anderen diese Öffentlichkeit demonstrativ zu verweigern: kurzum, um Politik zu betreiben! So blieb der Weltkriegsverlierer Deutschland 1920 und 1924 von den Olympischen Spielen ausgeschlossen.

Desto glänzender stellte sich 1936 das Dritte Reich bei Olympia vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Spiele zur Arena des Kalten Krieges, wobei der Ostblock am Westen vorbeizog. Der boykottierte 1980 die Olympischen Spiele in Moskau; der Osten antworte, indem er 1984 Los Angeles fernblieb.

Ein spezielles Kapitel bildete der deutsch-deutsche Sportkonflikt. Der DDR gelang es, in den Stadien der Welt den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zu unterlaufen. Nachdem sie 1968 bei den Sommerspielen in Mexiko in der Medaillenwertung den dritten Platz belegte, beschloß das IOC mit 40 gegen vier Stimmen, ihrer Olympia-Mannschaft künftig die volle Gleichberechtigung mit Flagge und Hymne zuzugestehen. Das war um so pikanter, weil die nächsten Spiele ausgerechnet in München stattfanden. Kurz darauf hob die Bundesregierung ihre diplomatische Blockade über die DDR auf.

Auch heute sind die Olympischen Spiele der Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, wobei der geopolitische den Systemkonflikt abgelöst hat. Die „olympische Idee“ wird nun als Propaganda-Waffe gegen Rußland benutzt. Ganz sicher hat Moskau Staatsdoping betrieben, doch im autoritär regierten China, das in den Medaillenwertungen der letzten Jahre stets vor Rußland und 2008 sogar vor den USA lag, wird das nicht anders sein. Und wer will die Hand dafür ins Feuer legen, daß nicht auch US-Heroen zu Hilfsmitteln greifen, nur eben nicht staatlich, sondern privat organisiert?
Rußland konnte es als politischen Sieg verbuchen, daß trotz Krim-Anschluß die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi stattfanden. Die Korruptionsermittlungen der US-Justiz gegen die Fifa sind daher im Zusammenhang mit der Fußball-WM 2018 zu sehen, die in Rußland veranstaltet werden soll. Die Fifa mag ein korrupter Haufen sein, doch die Ausdehnung der US-Justiz auf Europa, wo Bürger aus Drittstaaten verhaftet und in die USA überstellt wurden, ist ein sportpolitischer und juristischer Imperialismus.

Die umfänglichen Ermittlungen der USA stehen in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer marginalen Rolle im Weltfußball, sind aber noch aus einem weiteren Grund leicht zu erklären. Die Fifa verwaltet die mächtigste und wahrhaft weltumspannende Religion des Massenzeitalters. Der Fußball ist der einzige ernsthafte Konkurrent zur globalen „soft power“ der amerikanischen Massenkultur, die eine zentrale Stütze der US-Dominanz darstellt. Ein Weltfußballverband, der unabhängig von Washington agiert, ist ein politischer Unsicherheits- und Störfaktor – wie die WM-Vergabe an Rußland zeigt.

Die DDR-Olympioniken wurden auch „Botschafter im Trainingsanzug“ genannt. Gleichzeitig war ihnen eine innenpolitische Funktion als Identifikationsfiguren zugedacht, an deren Erfolgen sich ein DDR-Patriotismus emporranken sollte. Für den Moment vermochten sie den Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Bundesrepublik zu kompensieren, doch das Bewußtsein, in einem Zwangsstaat zu leben, konnten sie nicht aus der Welt schaffen. Bei den Spielen 1988 in Seoul errang die DDR mehr Siege als die 20mal größeren USA. Trotzdem fiel der Staat ein Jahr später in sich zusammen.

Ein verschnupfter bundesdeutscher Minister äußerte zu Seoul, die Bundesrepublik hätte es nicht nötig, ihr Selbstbewußtsein aus dem Sport zu generieren. Heute denkt man anders darüber. Anläßlich der Fußball-Europameisterschaft überboten Politik und Medien sich darin, die ethnische Vielfalt der Nationalmannschaft als zukunftsträchtiges Gesellschaftsmodell anzupreisen. Die Welt feierte das „körperliche und spielerische Genie Boatengs“, das „etwas Unerreichbares (verkörpert): Physisch, zeitgeistig, ökonomisch.“ Boateng, Özil und Khedira stünden für die „neue Elite“ eines „neuen Deutschland“.
Am Ende war die Mannschaftsleistung mäßig, und was Özil angeht, bedeutet die Zugehörigkeit zur deutschen statt zur türkischen Nationalmannschaft vor allem die Steigerung seines Marktwerts. Im übrigen wiederholen die Genannten die alte Geschichte vom sozialen Aufstieg durch den Profisport. Der Unterhaltungswert ist enorm, der gesellschaftliche Mehrwert fraglich. Sami Khedira schätzt seine Bedeutung viel realistischer ein als der Welt-Autor: „Ich bin kein Politiker, ich bin kein Finanzfachmann. Ich bin ein Mensch, der in einem kurzärmligen Hemd dem Ball hinterherläuft.“
Bereits Merkels Amtsvorgänger Gerhard Schröder hatte versucht, durch den Sport einen neuen BRD-Patriotismus zu formen. Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ aus dem Jahr 2003, der vom deutschen Sieg bei der Fußball-WM 1954 handelt, wurde zum künstlerischen und gesellschaftlichen Großereignis ausgerufen. Drei Jahre später ließ Wortmann den Kino-Dokumentarfilm „Deutschland. Ein Sommermärchen“ über die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland folgen.

Die Premiere fand symbolträchtig am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, in Berlin statt. Der Spiegel erkannte „eine Art Heimvideo für die Ewigkeit“, eine „Innenaufnahme deutscher Seelenzustände (…), das Protokoll einer Veränderung, die Skizze einer neuen Generation, das bewegte und bewegende Album eines anderen Lebensgefühls in Deutschland.“ Die Zeit meinte rückblickend: „Es waren Wochen, in denen sich eine Nation neu erfand“ und „ein Volk sich mit seinen kämpferischen Anteilen versöhnt“ habe.
Für die damalige Stimmung wurde der Begriff „Partypatriotismus“ beziehungsweise „Partyotismus“ geprägt. Eine sprachliche Verballhornung, deren Erfinder ungewollt auf den Punkt brachten, daß eben keine kollektive Katharsis, sondern eine weitere Drehung der Banalisierung stattgefunden hatte. Sie erfolgte nach den Regeln der Unterhaltungs- und Spaßindustrie, deren Zweck darin besteht, kindliche Freude an der ewigen Gegenwart zu produzieren und zu verdrängen, daß es so etwas wie „Schicksal“ überhaupt gibt.

Das Ergebnis dieser Infantilisierung und Entpolitisierung war im Sommer 2015 zu besichtigen, als unter der Losung „Refugees welcome“ ein neues „Sommermärchen“ inszeniert und versucht wurde, es aus der Unverbindlichkeit des Sport- und Spaßkonsums in soziales Handeln zu übertragen. Geblieben sind die Bilder von einem medial angeheizten Massenschwachsinn und später das fassungslose Erstaunen darüber, mit der eigenen Harmlosigkeit die Tür für archaische Schicksalsmächte geöffnet zu haben.
Der Überfrachtung des Fußballs liegt zudem ein historisches Mißverständnis zugrunde. Der kollektive Adrenalinschub, den der WM-Sieg 1954 verursachte, speiste sich nicht bloß aus dem Sportereignis. Es bildete nur den Anlaß. Das allgemeine Gefühl brach sich Bahn, daß es endlich wieder bergauf ging. Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder hatten Fahrt aufgenommen, und allmählich erarbeitete die Bundesrepublik sich internationalen Respekt.

Doch auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Der wirkliche Film zur Weltmeisterschaft 1954 ist nicht Wortmanns überaus korrektes „Wunder von Bern“, sondern Rainer Werner Fassbinders Geniesteich „Die Ehe der Maria Braun“. Die Titelfigur, die von Hanna Schygulla gespielt wird, steht nach dem Krieg lange allein da. Um zu überleben, prostituiert sie sich und entwickelt sich zu einer harten, gegen sich rücksichtslosen Karrierefrau.
Die Schlußszene ist von der Rundfunkreportage aus Bern unterlegt. Während der Reporter ekstatisch „Tor! Tor! Tor! Deutschland ist Weltmeister!“ schreit, fliegt das Haus durch eine Gasexplosion in die Luft. Es ist eine prophetische Szene. Bis sie ganz Wirklichkeit wird, blinzeln die letzten Partyoten weiter gebannt in Richtung Fernseher.   Thorsten Hinz


Merkwürdig, dass Thorsten Hinz die epochemachenden Olympischen Spiele von 1968 betreffend nur die Profilierung der DDR erwähnt. Denn damals streckten, als bei der Siegerehrung die amerikanische Hymne ertönte, die beiden schwarzen Athleten Tommie Smith und John Carlos mit gesenktem Haupt je eine Faust mit schwarzem Handschuh in die Höhe, um ihren Sieg der Black-Power-Bewegung zu widmen.




Was bei der Erinnerung an dieses Ereignis immer außer Acht gelassen wird, ist die Tatsache, dass der weiße (Australier) Peter Norman, der die Silbermedaille gewonnen hatte, aus Solidarität mit den Schwarzen eine Plakette des Olympic Project for Human Rights trug.
Es war sogar Normans Idee, das eine Paar schwarzer Handschuhe, das zur Verfügung stand, unter Smith und Carlos aufzuteilen, weil Carlos seine Handschuhe vergessen hatte.

Es ist eine merkwürdige Choreographie, die entsteht, als sich während der Ausführung der Hymne alle der Kappelle zuwenden. Übrigens waren die Olympischen Spiele 1968 die ersten, die in Farbe übertragen wurden.

Vier Jahre später wird der deutsche Michel vom Schwarzen 5. September überrascht. Und sowohl meine nationalsozialistisch gesinnten Eltern wie die linksradikal gesinnten Schulkameraden waren nicht von den Arabern entsetzt wie ich, sondern von den Israelis. Ab dem 5. September 1972 war es mit meiner Lebensfreude endgültig vorbei.


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