Die
„olympische Idee“ ist eine Schimäre, bestenfalls ein frommer
Selbstbetrug von letzten Idealisten. Die Faszination des Sports kommt
aus banaleren und elementareren Quellen. Im Stadion oder vorm Fernseher
erlebt der moderne Mensch, das gezähmte Haustier, jene
Heldengeschichten, Leidenschaften, Spannungsmomente und Tragödien, die
ihm die Lebenswirklichkeit längst verwehrt.
Der Zeitdiagnostiker Karl Jaspers stellte 1932 denn auch keinen
Vergleich mit den Olympischen Spielen im antiken Griechenland mehr an,
sondern bezog sich auf die grausamen Schaukämpfe im alten Rom. Stets
schwinge beim Zuschauer „der Genuß an Gefahr und Vernichtung des dem
Einzelnen persönlich fernen Menschen“ mit.
Die „Ekstase für gefährliche Sportleistungen“ stelle die
verlorengegangene Verbindung zum Archaischen, zum „Verrückten,
Primitiven, Undurchsichtigen“ wieder her. Der Mensch wolle „der
Helligkeit des rationalen Daseins“ entrinnen, „wo das Schicksal
aufhört“, die Existenz langweilig und „absolut geheimnislos“ sei. Der
Sport verschaffe ihm den „lockenden Anblick exzentrischer Möglichkeiten.
Der Apparat sorgt für seine Befriedigung.“
Olympia oder der Fußball sind besonders geeignet, um Emotionen,
menschliche Bedürfnisse und Triebe zu bändigen, zu kanalisieren oder
hervorzurufen; um sich in einem frenetischen Rahmen zu präsentieren –
oder anderen diese Öffentlichkeit demonstrativ zu verweigern: kurzum, um
Politik zu betreiben! So blieb der Weltkriegsverlierer Deutschland 1920
und 1924 von den Olympischen Spielen ausgeschlossen.
Desto glänzender stellte sich 1936 das Dritte Reich bei Olympia vor.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Spiele zur Arena des Kalten
Krieges, wobei der Ostblock am Westen vorbeizog. Der boykottierte 1980
die Olympischen Spiele in Moskau; der Osten antworte, indem er 1984 Los
Angeles fernblieb.
Ein spezielles Kapitel bildete der deutsch-deutsche Sportkonflikt.
Der DDR gelang es, in den Stadien der Welt den Alleinvertretungsanspruch
der Bundesrepublik zu unterlaufen. Nachdem sie 1968 bei den
Sommerspielen in Mexiko in der Medaillenwertung den dritten Platz
belegte, beschloß das IOC mit 40 gegen vier Stimmen, ihrer
Olympia-Mannschaft künftig die volle Gleichberechtigung mit Flagge und
Hymne zuzugestehen. Das war um so pikanter, weil die nächsten Spiele
ausgerechnet in München stattfanden. Kurz darauf hob die Bundesregierung
ihre diplomatische Blockade über die DDR auf.
Auch heute sind die Olympischen Spiele der Schauplatz politischer
Auseinandersetzungen, wobei der geopolitische den Systemkonflikt
abgelöst hat. Die „olympische Idee“ wird nun als Propaganda-Waffe gegen
Rußland benutzt. Ganz sicher hat Moskau Staatsdoping betrieben, doch im
autoritär regierten China, das in den Medaillenwertungen der letzten
Jahre stets vor Rußland und 2008 sogar vor den USA lag, wird das nicht
anders sein. Und wer will die Hand dafür ins Feuer legen, daß nicht auch
US-Heroen zu Hilfsmitteln greifen, nur eben nicht staatlich, sondern
privat organisiert?
Rußland konnte es als politischen Sieg verbuchen, daß trotz
Krim-Anschluß die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi stattfanden.
Die Korruptionsermittlungen der US-Justiz gegen die Fifa sind daher im
Zusammenhang mit der Fußball-WM 2018 zu sehen, die in Rußland
veranstaltet werden soll. Die Fifa mag ein korrupter Haufen sein, doch
die Ausdehnung der US-Justiz auf Europa, wo Bürger aus Drittstaaten
verhaftet und in die USA überstellt wurden, ist ein sportpolitischer und
juristischer Imperialismus.
Die umfänglichen Ermittlungen der USA stehen in einem umgekehrten
Verhältnis zu ihrer marginalen Rolle im Weltfußball, sind aber noch aus
einem weiteren Grund leicht zu erklären. Die Fifa verwaltet die
mächtigste und wahrhaft weltumspannende Religion des Massenzeitalters.
Der Fußball ist der einzige ernsthafte Konkurrent zur globalen „soft
power“ der amerikanischen Massenkultur, die eine zentrale Stütze der
US-Dominanz darstellt. Ein Weltfußballverband, der unabhängig von
Washington agiert, ist ein politischer Unsicherheits- und Störfaktor –
wie die WM-Vergabe an Rußland zeigt.
Die DDR-Olympioniken wurden auch „Botschafter im Trainingsanzug“
genannt. Gleichzeitig war ihnen eine innenpolitische Funktion als
Identifikationsfiguren zugedacht, an deren Erfolgen sich ein
DDR-Patriotismus emporranken sollte. Für den Moment vermochten sie den
Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Bundesrepublik zu kompensieren,
doch das Bewußtsein, in einem Zwangsstaat zu leben, konnten sie nicht
aus der Welt schaffen. Bei den Spielen 1988 in Seoul errang die DDR mehr
Siege als die 20mal größeren USA. Trotzdem fiel der Staat ein Jahr
später in sich zusammen.
Ein verschnupfter bundesdeutscher Minister äußerte zu Seoul, die
Bundesrepublik hätte es nicht nötig, ihr Selbstbewußtsein aus dem Sport
zu generieren. Heute denkt man anders darüber. Anläßlich der
Fußball-Europameisterschaft überboten Politik und Medien sich darin, die
ethnische Vielfalt der Nationalmannschaft als zukunftsträchtiges
Gesellschaftsmodell anzupreisen. Die Welt feierte das
„körperliche und spielerische Genie Boatengs“, das „etwas Unerreichbares
(verkörpert): Physisch, zeitgeistig, ökonomisch.“ Boateng, Özil und
Khedira stünden für die „neue Elite“ eines „neuen Deutschland“.
Am Ende war die Mannschaftsleistung mäßig, und was Özil angeht,
bedeutet die Zugehörigkeit zur deutschen statt zur türkischen
Nationalmannschaft vor allem die Steigerung seines Marktwerts. Im
übrigen wiederholen die Genannten die alte Geschichte vom sozialen
Aufstieg durch den Profisport. Der Unterhaltungswert ist enorm, der
gesellschaftliche Mehrwert fraglich. Sami Khedira schätzt seine
Bedeutung viel realistischer ein als der Welt-Autor: „Ich bin
kein Politiker, ich bin kein Finanzfachmann. Ich bin ein Mensch, der in
einem kurzärmligen Hemd dem Ball hinterherläuft.“
Bereits Merkels Amtsvorgänger Gerhard Schröder hatte versucht, durch
den Sport einen neuen BRD-Patriotismus zu formen. Sönke Wortmanns Film
„Das Wunder von Bern“ aus dem Jahr 2003, der vom deutschen Sieg bei der
Fußball-WM 1954 handelt, wurde zum künstlerischen und gesellschaftlichen
Großereignis ausgerufen. Drei Jahre später ließ Wortmann den
Kino-Dokumentarfilm „Deutschland. Ein Sommermärchen“ über die
Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland folgen.
Die Premiere fand symbolträchtig am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, in Berlin statt. Der Spiegel
erkannte „eine Art Heimvideo für die Ewigkeit“, eine „Innenaufnahme
deutscher Seelenzustände (…), das Protokoll einer Veränderung, die
Skizze einer neuen Generation, das bewegte und bewegende Album eines
anderen Lebensgefühls in Deutschland.“ Die Zeit meinte
rückblickend: „Es waren Wochen, in denen sich eine Nation neu erfand“
und „ein Volk sich mit seinen kämpferischen Anteilen versöhnt“ habe.
Für die damalige Stimmung wurde der Begriff „Partypatriotismus“
beziehungsweise „Partyotismus“ geprägt. Eine sprachliche Verballhornung,
deren Erfinder ungewollt auf den Punkt brachten, daß eben keine
kollektive Katharsis, sondern eine weitere Drehung der Banalisierung
stattgefunden hatte. Sie erfolgte nach den Regeln der Unterhaltungs- und
Spaßindustrie, deren Zweck darin besteht, kindliche Freude an der
ewigen Gegenwart zu produzieren und zu verdrängen, daß es so etwas wie
„Schicksal“ überhaupt gibt.
Das Ergebnis dieser Infantilisierung und Entpolitisierung war im
Sommer 2015 zu besichtigen, als unter der Losung „Refugees welcome“ ein
neues „Sommermärchen“ inszeniert und versucht wurde, es aus der
Unverbindlichkeit des Sport- und Spaßkonsums in soziales Handeln zu
übertragen. Geblieben sind die Bilder von einem medial angeheizten
Massenschwachsinn und später das fassungslose Erstaunen darüber, mit der
eigenen Harmlosigkeit die Tür für archaische Schicksalsmächte geöffnet
zu haben.
Der Überfrachtung des Fußballs liegt zudem ein historisches
Mißverständnis zugrunde. Der kollektive Adrenalinschub, den der WM-Sieg
1954 verursachte, speiste sich nicht bloß aus dem Sportereignis. Es
bildete nur den Anlaß. Das allgemeine Gefühl brach sich Bahn, daß es
endlich wieder bergauf ging. Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder
hatten Fahrt aufgenommen, und allmählich erarbeitete die Bundesrepublik
sich internationalen Respekt.
Doch auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Der wirkliche Film zur
Weltmeisterschaft 1954 ist nicht Wortmanns überaus korrektes „Wunder von
Bern“, sondern Rainer Werner Fassbinders Geniesteich „Die Ehe der Maria
Braun“. Die Titelfigur, die von Hanna Schygulla gespielt wird, steht
nach dem Krieg lange allein da. Um zu überleben, prostituiert sie sich
und entwickelt sich zu einer harten, gegen sich rücksichtslosen
Karrierefrau.
Die Schlußszene ist von der Rundfunkreportage aus Bern unterlegt.
Während der Reporter ekstatisch „Tor! Tor! Tor! Deutschland ist
Weltmeister!“ schreit, fliegt das Haus durch eine Gasexplosion in die
Luft. Es ist eine prophetische Szene. Bis sie ganz Wirklichkeit wird,
blinzeln die letzten Partyoten weiter gebannt in Richtung Fernseher. Thorsten Hinz
Merkwürdig, dass Thorsten Hinz die epochemachenden Olympischen Spiele von 1968 betreffend nur die Profilierung der DDR erwähnt. Denn damals streckten, als bei der Siegerehrung die amerikanische Hymne ertönte, die beiden schwarzen Athleten Tommie Smith und John Carlos mit gesenktem Haupt je eine Faust mit schwarzem Handschuh in die Höhe, um ihren Sieg der Black-Power-Bewegung zu widmen.
Was bei der Erinnerung an dieses Ereignis immer außer Acht gelassen wird, ist die Tatsache, dass der weiße (Australier) Peter Norman, der die Silbermedaille gewonnen hatte, aus Solidarität mit den Schwarzen eine Plakette des Olympic Project for Human Rights trug.
Es war sogar Normans Idee, das eine Paar schwarzer Handschuhe, das zur Verfügung stand, unter Smith und Carlos aufzuteilen, weil Carlos seine Handschuhe vergessen hatte.
Es ist eine merkwürdige Choreographie, die entsteht, als sich während der Ausführung der Hymne alle der Kappelle zuwenden. Übrigens waren die Olympischen Spiele 1968 die ersten, die in Farbe übertragen wurden.
Vier Jahre später wird der deutsche Michel vom Schwarzen 5. September überrascht. Und sowohl meine nationalsozialistisch gesinnten Eltern wie die linksradikal gesinnten Schulkameraden waren nicht von den Arabern entsetzt wie ich, sondern von den Israelis. Ab dem 5. September 1972 war es mit meiner Lebensfreude endgültig vorbei.
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