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Donnerstag, 18. August 2016

Maas und Maaßen überwachen Sellner





DIE ZEIT: Herr Hofer hat es nicht geschafft. Wir Liberalen atmen auf. Herr Jongen, steht der Weltgeist doch nicht auf der Seite der Rechtspopulisten?
Marc Jongen: Als großer Dramatiker liebt der Weltgeist vielleicht auch nur die retardierenden Momente. Noch einmal hat das morsche System seine Ressourcen zusammengekratzt, bevor es umso eindrucksvoller einstürzen wird.
ZEIT: Aus welchen Milieus stammen die Wähler Ihrer Partei? Man denkt ja immer an Globalisierungsverlierer, an eine untere Mittelschicht, die sich von Abstiegsängsten bedroht fühlt und deshalb rechts außen wählt.
Jongen: Die Partei erschließt sich mit ihrem Wachstum auch ihre Milieus. Wir haben bekanntlich als Euro-kritische Partei begonnen, das Stammpublikum war ein bürgerliches Milieu, jetzt kommen die Anhänger aus allen Schichten. Es gibt sehr vermögende Leute, die uns unterstützen, aber auch viele Wähler vom unteren sozialen Rand. Ich habe für mich die Formel gefunden: Wir sind die "Lobby des Volkes", nicht einzelner Interessengruppen. Wir schauen auf das Gesamtwohl.
ZEIT: Gibt es überhaupt so etwas wie das Volk, dessen Gesamtwohl man bestimmen kann?
Jongen: Die Frage nach dem Volk ist eine fast schon metaphysische, und wie alle Fragen dieses Typs kann sie leicht zu totalitären Antworten verführen. In der empirischen Wirklichkeit liegt die eigentliche Gefahr aber nicht in einer totalitären Machtergreifung des Volkes, sondern im Gegenteil in der Zersplitterung in zu viele Einzelinteressen, die in der Summe nicht zum Wohl des Ganzen arbeiten.
ZEIT: Wo sehen Sie ein solches Gesamtinteresse durch die etablierten Parteien verletzt?
Jongen: Im elementaren Interesse des Volkes liegt zum Beispiel der Bestand des Staates und dessen konstituierender Faktoren, etwa der deutschen Sprache. Wenn wir die derzeitige Asyl- und Einwanderungspolitik betrachten, so ist deren logische Folge der Verlust der deutschen Sprache und des deutschen Staates. Ein paar Jahrzehnte weitergedacht, führt die aktuelle Politik zu einem Zustand, in dem Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen ist.
ZEIT: Auch wenn dann die Flüchtlinge längst integriert sind? Damit bliebe doch der Zustand des Staates erhalten.
Jongen: Dass all diese Menschen integriert werden können, ist die große Lebenslüge der Regierenden. Die Mentalität, die heute Grenzen de facto abschafft und das Land allen öffnet, ist dieselbe, die nach und nach auch die deutsche Sprache nicht mehr verteidigen wird, die am Ende zweite oder dritte Amtssprachen einführen wird, um Integrationshindernisse abzubauen.
ZEIT: Wer genau hat diese Mentalität?
Jongen: In der AfD wird gerne vom 68er-verseuchten Deutschland gesprochen, das wir verändern wollen. Mit dem Stichwort 68 ist eine Mentalität der scharfen Kritik an der Kriegsgeneration angesprochen – eine durchaus nicht in allem unberechtigte Kritik, die aber dazu geführt hat, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Man ist nicht mehr bereit, wie es für eine Kulturnation selbstverständlich sein sollte, das Eigene zu schützen und zu verteidigen, vielmehr stellt man in einem übertriebenen, letztlich neurotischen Humanitarismus das Fremde über das Eigene. Zu erkennen ist das an vermeintlichen Nebensächlichkeiten wie der typisch deutschen Tendenz, bei Anwesenheit auch nur eines Englischsprachigen im Raum sofort zum Englischen überzugehen. An sich ja eine höfliche Geste, die uns aber bald in die Situation bringen könnte, dass wir am Ende die eigene Sprache gar nicht mehr sprechen – wie schon heute in manchen Studiengängen an deutschen Universitäten.
ZEIT: Definiert sich das Volksinteresse vor allem durch Bedrohungen? Gibt es auch eine positive Bestimmung?
Jongen: Das Eigene wird vor allem in der Bedrohung durch das Fremde auffällig, woraus dann auch die politische Motivation erwächst, sich dafür einzusetzen. Die positive Vision ist fast banal: ein kulturell und wirtschaftlich florierendes Land, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebt und sich keine Sorgen um Fortbestand und Zukunft machen muss.
ZEIT: Aber genau in einem solchen Land leben wir. Das ist doch eine enorme Leistung der etablierten Parteien, die die AfD immer schmäht. Das gälte es doch auch erst einmal anzuerkennen!
Jongen: Lesen Sie den ersten Absatz unseres baden-württembergischen Wahlprogramms, dort erkennen wir genau das an. Allerdings heißt es im zweiten Absatz dann auch, dass die Zukunft unseres Landes bedroht ist und dass das Bild bald ins Unfriedliche und wirtschaftlich Unerfreuliche kippen könnte, wenn nicht gegengesteuert wird. Die EU hat sich von einer nutzbringenden Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Instanz entwickelt, die über den Willen der Völker hinweg deren Souveränitätsrechte an sich zieht und einen Superstaat konstruiert, der nicht mehr demokratisch ist – eine EUdSSR, wie in heutigen Dissidentenkreisen gesagt wird.
ZEIT: Sie haben einmal gesagt, um die politische Trägheit der Deutschen zu überwinden, müsse man ihren "thymotischen" Energielevel erhöhen, unter Verwendung eines griechischen Begriffes, der den Willen vor allem zu Zorn, Stolz und Selbstbehauptung bezeichnet. Aber gibt es nicht genug Zorn und Selbstbehauptung in diesem Land der aufgeregten und neidischen Nachbarn?
Jongen: Der "Thymos" kennt viele Register, eher giftige wie Neid und Ressentiment und edlere wie Selbstbewusstsein und Stolz. Ich möchte gewiss nicht das Ressentiment fördern, sondern halte mich an Francis Fukuyama, der in seinem Buch über Das Ende der Geschichte zwischen der Megalothymia und der Isothymia, dem Willen zur tyrannischen Dominanz und dem Willen zur Anerkennung unter Gleichen, unterschieden hat. In einer liberalen, demokratischen Gesellschaft müssen wir natürlich auf Isothymia setzen, nach innen wie nach außen. Aber davon sehe ich in Deutschland leider nicht viel, man macht sich vielmehr zum Knecht von Einwanderern, um die man einen Willkommenskult zelebriert, obwohl sie ganz auf eigene Faust zu uns gekommen sind. Anerkennung unter Gleichen würde bedeuten, dass man sie aus freien Stücken eingeladen hätte.
ZEIT: In Hamburger Villenvororten herrschen eher robuste Formen thymotischer Energie gegenüber Flüchtlingen.
Jongen: Das sind nachvollziehbare Reaktionen auf eine arrogante Politik des Staates. Wenn die Regierung den Bürgern etwas von oben aufdrückt, dann kommen notwendigerweise rebellische Energien hoch. Aber wäre es denn wünschenswert, wenn es gar keine Abwehrreaktionen gäbe? Deutschland ist heute zutiefst gespalten. Wir laufen auf die gefährliche Situation zu, dass sich zwei Wirgefühle etablieren, die jeweils für sich beanspruchen, das Ganze des Volkes zu umfassen. Das eine entsteht um die Flüchtlingshilfe herum und bezieht daraus seinen Lebenssinn, das andere konstituiert sich gerade im Widerstand gegen die befürchtete Überfremdung. Eine verantwortungsvolle Staatsführung wäre daran zu erkennen, dass sie bemüht wäre, beide Identitäten zusammenzuführen oder zumindest für eine gemeinsame Sockelidentität zu sorgen. Nichts anderes meint die Rede von der Leitkultur.
ZEIT: Hätte die Regierung um des Wirgefühls willen auf die Flüchtlingspolitik verzichten sollen?
Jongen: Man hätte auf die Staatsräson Rücksicht nehmen müssen. Stattdessen hat eine Übernahme linksradikaler Positionen durch eine sich bürgerlich nennende Regierung stattgefunden. Das Niederreißen aller Grenzen ist ja eine klassische Forderung des Linksradikalismus.
ZEIT: Linksradikalismus war aber nicht das Motiv für die Öffnung der Grenzen gewesen, sondern die humanitäre Herausforderung – Caritas in der Tradition des christlichen Abendlandes.
Jongen: Sofern Linksradikalismus nicht ein verirrter Abkömmling des Christentums ist. Man könnte auch darüber streiten, ob Caritas die Grundlage verantwortungsvoller Politik sein kann. Punktuell sicher ja, aber dann hätte sie flankiert werden müssen von klaren Ansagen zur Einmaligkeit der Aktion – und von sofortiger Grenzsicherung. Stattdessen hat Frau Merkel fatale Einladungssignale an alle Mühseligen und Beladenen dieser Welt ausgesandt.
ZEIT: Aufs Abendland berufen sich AfD und Pegida gerne. Abendland heißt doch eigentlich Zivilisiertheit. Ihr Parteikollege Meuthen, Sie zitierten ihn vorhin, spricht vom "links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland". In bürgerlichen Kreisen ist das kein Umgangston.
Jongen: Die Politik und erst recht die Parteipolitik ist auch ein Feld der Polemik, das lässt sich nicht vermeiden. Sie haben aber recht, dass das Bürgerliche eigentlich das Staatstragende ist, zu dem eine solche Polemik nicht wirklich passt. Wir sind in der historisch paradoxen Situation, dass das Bürgertum aus der staatstragenden Rolle herausgedrängt wurde und die sich bürgerlich nennenden Parteien linksradikale Politik machen. Der lange Marsch der 68er durch die Institutionen ist eben relativ erfolgreich verlaufen. Das ist eine Schieflage, die das Bürgertum seinerseits zwingt, fast schon revolutionäre Attitüden anzunehmen und verbal auf die Barrikaden zu gehen.
ZEIT: Wie konnte es denn zu dieser herrschenden Stellung des 68er-Milieus kommen?
Jongen: Es ist kein Zufall, dass dem 68er-Syndrom ein verheerender Krieg vorausgegangen ist. Ohne die historische Diskreditierung der älteren Generation hätte sich keine derartige Abwertung des Eigenen und keine derart gebrochene Selbstwahrnehmung des Volkes etablieren können.
ZEIT: Die AfD scheint sehr unter der Gebrochenheit zu leiden, die aus der deutschen Geschichte hervorgeht. Aber es gibt doch kein ungebrochenes Leben.
Jongen: Das ist schon richtig. Das Ungebrochene wird man niemals realisieren können. Aber als regulative Idee, mit Kant gesprochen, kann es doch Orientierung geben. Wir waren jetzt länger in einer historischen Phase der Differenz und der Nichtidentität, der Abkehr vom Eigenen. Diese Phase ist offenkundig an ein Ende gelangt, daraus geht nichts Produktives mehr hervor. Wir rücken jetzt in eine neue Identitätsphase ein. Davor muss man keine Angst haben, denn die Hauptgefahr liegt heute ja nicht darin, dass wir in Identität erstarren und in einen aggressiven Nationalismus verfallen, sondern dass wir das Eigene ganz verlieren.
ZEIT: Sehen Sie sich als Teil der identitären Bewegung in Europa?
Jongen: Soweit ich sehe, ist das eine Jugendbewegung, die den Identitätsaspekt in jugendlichem Überschwang geradezu glorifiziert. Ich würde mich dem nicht anschließen wollen, weil zweifellos ein verkürztes Verständnis von Kultur dahintersteht, aber ich sehe es trotzdem mit Sympathie, weil da versucht wird, das aus dem Lot geratene Gebilde der europäischen Kultur von der Identitätsseite her zu korrigieren.
ZEIT: Dann müssen wir jetzt dringend darüber sprechen, wie Sie Identität definieren. Ist das eine kulturelle, eine staatsbürgerliche oder ethnische Kategorie?
Jongen: Darauf möchte ich eine konservative Antwort geben, wenn denn konservativ bedeutet, sich immer nahe an der Empirie zu bewegen, auf die konkreten Traditionen zu achten und gegenüber abstrakten Konstruktionen skeptisch zu sein. Natürlich hat es zwischen den Völkern und Nationen immer Austausch gegeben, natürlich konnte ein Fremder immer Deutscher werden, davon zeugen die vielen eingebürgerten Namen von Klonovsky bis Kubitschek. Diese Menschen sind nicht weniger deutsch als andere, oft im Gegenteil. Das kann aber zugleich nicht heißen, dass man innerhalb kurzer Zeit das gesamte Volk durch Afrikaner und Araber ersetzen könnte ohne eine völlige Änderung seines Charakters. Die Identität eines Volkes ist eine Mischung aus Herkunft, aus Kultur und aus rechtlichen Rahmenbedingungen. Der Pass alleine macht noch keinen Deutschen. Als AfD sind wir deshalb dafür, das sogenannte Abstammungsprinzip im Staatsbürgerschaftsrecht, das ja bis vor Kurzem noch gegolten hat, wieder einzuführen, um nicht eine zu rasche Einbürgerung von Menschen zuzulassen, die kaum der Sprache mächtig sind und keinen inneren Bezug zu diesem Land haben. Man muss bei aller Zuwanderung sehr darauf achten, dass die Assimilation, die Verähnlichung, gewährleistet bleibt.
ZEIT: Gab es in Ihrer Biografie ein politisches Erweckungserlebnis?
Jongen: Das Politische als eine Dimension des philosophischen Nachdenkens interessiert mich schon sehr lange, die Tagespolitik habe ich aber bis vor wenigen Jahren nicht sehr ernst genommen. Meine Studienzeit war ja rückblickend eine Zeit, in der fast schon das Ende der Geschichte erreicht war. Mehr oder weniger austauschbare Parteien stritten sich über Verwaltungsfragen. Das hat sich mit dem islamistischen Terror, mit der Finanzkrise und vollends mit der Flüchtlingskrise gründlich geändert. Auf politischer Ebene fallen jetzt wieder echte Entscheidungen. Ein einschneidendes Erlebnis war für mich die Einführung des ESM-Rettungsschirms durch die EU und die schockierende Erfahrung, dass der deutsche Bundestag quasi über Nacht einem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat, das wichtige Haushaltsrechte des Parlaments einfach außer Kraft setzt. Kurz darauf bin ich der AfD beigetreten, die in dieser Zeit gegründet wurde.
ZEIT: Wen haben Sie vorher gewählt?
Jongen: In Südtirol, wo ich die längste Zeit gelebt habe, die Südtiroler Volkspartei für das italienische Parlament. Und zwar einfach deshalb, weil es für Deutschsprachige dort fast schon alternativlos ist, die eigene Interessenvertretung zu wählen. Ansonsten hatte ich Sympathien für die grüne Seite, vor allem wegen des ökologischen Gedankens, wie auch für die Liberalen. Westerwelles Spaßpartei hatte mich aber früh wieder abgeschreckt, ebenso wie die Windrad- und die Gender-Manie der Grünen.
ZEIT: Wie sehr sind Ihre politischen Überzeugungen von Ihrem philosophischen Werdegang beeinflusst?
Jongen: Nach Schopenhauer war Nietzsche für mich ein frühes prägendes Lektüreerlebnis. Nietzsche ist zwar kein klassisch politischer Philosoph, dafür aber umso mehr für das Psycho-Politische zuständig. Diese Dimension ist auch für meinen Zugang zur praktischen Politik die bestimmende. Von dem, was Nietzsche in der Genealogie der Moral über das Ressentiment schreibt, lässt sich eine direkte Linie zum Gutmenschentum ziehen, dem sich die AfD entgegenstellt. Und unter der seltenen Spezies der lebenden Philosophen war Peter Sloterdijk mein wichtigster Einfluss.
ZEIT: Und wie sieht Sloterdijk Ihre politische Tätigkeit?
Jongen: Nun, er hat ja ein paar öffentliche Aussagen dazu gemacht, die weniger freundlich waren. Auch die AfD sieht er bekanntlich kritisch. Mein Eindruck ist aber, dass seine Äußerungen zur Flüchtlingskrise so fern zu dem nicht stehen, was ich sage und was auch die Position der AfD ist. Und das ist letztlich wichtiger und auch wirksamer als seine oder meine persönlichen Befindlichkeiten.   ZEIT

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