DIE ZEIT: Herr Hofer hat es nicht geschafft. Wir Liberalen atmen auf. Herr Jongen, steht der
Weltgeist doch nicht auf der Seite der Rechtspopulisten?
Marc Jongen:
Als großer Dramatiker liebt der Weltgeist vielleicht auch nur die retardierenden Momente.
Noch einmal hat das morsche System seine Ressourcen zusammengekratzt, bevor es umso
eindrucksvoller einstürzen wird.
ZEIT:
Aus welchen Milieus stammen die Wähler Ihrer Partei? Man denkt ja immer an
Globalisierungsverlierer, an eine untere Mittelschicht, die sich von Abstiegsängsten bedroht
fühlt und deshalb rechts außen wählt.
Jongen:
Die Partei erschließt sich mit ihrem Wachstum auch ihre Milieus. Wir haben bekanntlich als
Euro-kritische Partei begonnen, das Stammpublikum war ein bürgerliches Milieu, jetzt kommen
die Anhänger aus allen Schichten. Es gibt sehr vermögende Leute, die uns unterstützen, aber
auch viele Wähler vom unteren sozialen Rand. Ich habe für mich die Formel gefunden: Wir sind
die "Lobby des Volkes", nicht einzelner Interessengruppen. Wir schauen auf das
Gesamtwohl.
ZEIT:
Gibt es überhaupt so etwas wie das Volk, dessen Gesamtwohl man bestimmen kann?
Jongen:
Die Frage nach dem Volk ist eine fast schon metaphysische, und wie alle Fragen dieses Typs
kann sie leicht zu totalitären Antworten verführen. In der empirischen Wirklichkeit liegt
die eigentliche Gefahr aber nicht in einer totalitären Machtergreifung des Volkes, sondern
im Gegenteil in der Zersplitterung in zu viele Einzelinteressen, die in der Summe nicht zum
Wohl des Ganzen arbeiten.
ZEIT:
Wo sehen Sie ein solches Gesamtinteresse durch die etablierten Parteien verletzt?
Jongen:
Im elementaren Interesse des Volkes liegt zum Beispiel der Bestand des Staates und dessen
konstituierender Faktoren, etwa der deutschen Sprache. Wenn wir die derzeitige Asyl- und
Einwanderungspolitik betrachten, so ist deren logische Folge der Verlust der deutschen
Sprache und des deutschen Staates. Ein paar Jahrzehnte weitergedacht, führt die aktuelle
Politik zu einem Zustand, in dem Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen ist.
ZEIT:
Auch wenn dann die Flüchtlinge längst integriert sind? Damit bliebe doch der Zustand des
Staates erhalten.
Jongen:
Dass all diese Menschen integriert werden können, ist die große Lebenslüge der
Regierenden. Die Mentalität, die heute Grenzen de facto abschafft und das Land allen öffnet,
ist dieselbe, die nach und nach auch die deutsche Sprache nicht mehr verteidigen wird, die
am Ende zweite oder dritte Amtssprachen einführen wird, um Integrationshindernisse
abzubauen.
ZEIT:
Wer genau hat diese Mentalität?
Jongen:
In der AfD wird gerne vom 68er-verseuchten Deutschland gesprochen, das wir verändern
wollen. Mit dem Stichwort 68 ist eine Mentalität der scharfen Kritik an der Kriegsgeneration
angesprochen – eine durchaus nicht in allem unberechtigte Kritik, die aber dazu geführt hat,
dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Man ist nicht mehr bereit, wie es für eine
Kulturnation selbstverständlich sein sollte, das Eigene zu schützen und zu verteidigen,
vielmehr stellt man in einem übertriebenen, letztlich neurotischen Humanitarismus das Fremde
über das Eigene. Zu erkennen ist das an vermeintlichen Nebensächlichkeiten wie der typisch
deutschen Tendenz, bei Anwesenheit auch nur eines Englischsprachigen im Raum sofort zum
Englischen überzugehen. An sich ja eine höfliche Geste, die uns aber bald in die Situation
bringen könnte, dass wir am Ende die eigene Sprache gar nicht mehr sprechen – wie schon
heute in manchen Studiengängen an deutschen Universitäten.
ZEIT:
Definiert sich das Volksinteresse vor allem durch Bedrohungen? Gibt es auch eine positive
Bestimmung?
Jongen:
Das Eigene wird vor allem in der Bedrohung durch das Fremde auffällig, woraus dann auch
die politische Motivation erwächst, sich dafür einzusetzen. Die positive Vision ist fast
banal: ein kulturell und wirtschaftlich florierendes Land, das in Frieden mit seinen
Nachbarn lebt und sich keine Sorgen um Fortbestand und Zukunft machen muss.
ZEIT:
Aber genau in einem solchen Land leben wir. Das ist doch eine enorme Leistung der
etablierten Parteien, die die AfD immer schmäht. Das gälte es doch auch erst einmal
anzuerkennen!
Jongen:
Lesen Sie den ersten Absatz unseres baden-württembergischen Wahlprogramms, dort erkennen
wir genau das an. Allerdings heißt es im zweiten Absatz dann auch, dass die Zukunft unseres
Landes bedroht ist und dass das Bild bald ins Unfriedliche und wirtschaftlich Unerfreuliche
kippen könnte, wenn nicht gegengesteuert wird. Die EU hat sich von einer nutzbringenden
Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Instanz entwickelt, die über den Willen der Völker hinweg
deren Souveränitätsrechte an sich zieht und einen Superstaat konstruiert, der nicht mehr
demokratisch ist – eine EUdSSR, wie in heutigen Dissidentenkreisen gesagt wird.
ZEIT:
Sie haben einmal gesagt, um die politische Trägheit der Deutschen zu überwinden, müsse man
ihren "thymotischen" Energielevel erhöhen, unter Verwendung eines griechischen Begriffes,
der den Willen vor allem zu Zorn, Stolz und Selbstbehauptung bezeichnet. Aber gibt es nicht
genug Zorn und Selbstbehauptung in diesem Land der aufgeregten und neidischen Nachbarn?
Jongen:
Der "Thymos" kennt viele Register, eher giftige wie Neid und Ressentiment und edlere wie
Selbstbewusstsein und Stolz. Ich möchte gewiss nicht das Ressentiment fördern, sondern halte
mich an Francis Fukuyama, der in seinem Buch über
Das Ende der Geschichte
zwischen
der Megalothymia und der Isothymia, dem Willen zur tyrannischen Dominanz und dem Willen zur
Anerkennung unter Gleichen, unterschieden hat. In einer liberalen, demokratischen
Gesellschaft müssen wir natürlich auf Isothymia setzen, nach innen wie nach außen. Aber
davon sehe ich in Deutschland leider nicht viel, man macht sich vielmehr zum Knecht von
Einwanderern, um die man einen Willkommenskult zelebriert, obwohl sie ganz auf eigene Faust
zu uns gekommen sind. Anerkennung unter Gleichen würde bedeuten, dass man sie aus freien
Stücken eingeladen hätte.
ZEIT:
In Hamburger Villenvororten herrschen eher robuste Formen thymotischer Energie gegenüber
Flüchtlingen.
Jongen:
Das sind nachvollziehbare Reaktionen auf eine arrogante Politik des Staates. Wenn die
Regierung den Bürgern etwas von oben aufdrückt, dann kommen notwendigerweise rebellische
Energien hoch. Aber wäre es denn wünschenswert, wenn es gar keine Abwehrreaktionen gäbe?
Deutschland ist heute zutiefst gespalten. Wir laufen auf die gefährliche Situation zu, dass
sich zwei Wirgefühle etablieren, die jeweils für sich beanspruchen, das Ganze des Volkes zu
umfassen. Das eine entsteht um die Flüchtlingshilfe herum und bezieht daraus seinen
Lebenssinn, das andere konstituiert sich gerade im Widerstand gegen die befürchtete
Überfremdung. Eine verantwortungsvolle Staatsführung wäre daran zu erkennen, dass sie bemüht
wäre, beide Identitäten zusammenzuführen oder zumindest für eine gemeinsame Sockelidentität
zu sorgen. Nichts anderes meint die Rede von der Leitkultur.
ZEIT:
Hätte die Regierung um des Wirgefühls willen auf die Flüchtlingspolitik verzichten
sollen?
Jongen:
Man hätte auf die Staatsräson Rücksicht nehmen müssen. Stattdessen hat eine Übernahme
linksradikaler Positionen durch eine sich bürgerlich nennende Regierung stattgefunden. Das
Niederreißen aller Grenzen ist ja eine klassische Forderung des Linksradikalismus.
ZEIT:
Linksradikalismus war aber nicht das Motiv für die Öffnung der Grenzen gewesen, sondern
die humanitäre Herausforderung – Caritas in der Tradition des christlichen Abendlandes.
Jongen:
Sofern Linksradikalismus nicht ein verirrter Abkömmling des Christentums ist. Man könnte
auch darüber streiten, ob Caritas die Grundlage verantwortungsvoller Politik sein kann.
Punktuell sicher ja, aber dann hätte sie flankiert werden müssen von klaren Ansagen zur
Einmaligkeit der Aktion – und von sofortiger Grenzsicherung. Stattdessen hat Frau Merkel
fatale Einladungssignale an alle Mühseligen und Beladenen dieser Welt ausgesandt.
ZEIT: Aufs Abendland berufen sich AfD und Pegida gerne. Abendland heißt doch eigentlich
Zivilisiertheit. Ihr Parteikollege Meuthen, Sie zitierten ihn vorhin, spricht vom
"links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland". In bürgerlichen Kreisen ist das kein
Umgangston.
Jongen:
Die Politik und erst recht die Parteipolitik ist auch ein Feld der Polemik, das lässt sich
nicht vermeiden. Sie haben aber recht, dass das Bürgerliche eigentlich das Staatstragende
ist, zu dem eine solche Polemik nicht wirklich passt. Wir sind in der historisch paradoxen
Situation, dass das Bürgertum aus der staatstragenden Rolle herausgedrängt wurde und die
sich bürgerlich nennenden Parteien linksradikale Politik machen. Der lange Marsch der 68er
durch die Institutionen ist eben relativ erfolgreich verlaufen. Das ist eine Schieflage, die
das Bürgertum seinerseits zwingt, fast schon revolutionäre Attitüden anzunehmen und verbal
auf die Barrikaden zu gehen.
ZEIT:
Wie konnte es denn zu dieser herrschenden Stellung des 68er-Milieus kommen?
Jongen:
Es ist kein Zufall, dass dem 68er-Syndrom ein verheerender Krieg vorausgegangen ist. Ohne
die historische Diskreditierung der älteren Generation hätte sich keine derartige Abwertung
des Eigenen und keine derart gebrochene Selbstwahrnehmung des Volkes etablieren können.
ZEIT:
Die AfD scheint sehr unter der Gebrochenheit zu leiden, die aus der deutschen Geschichte
hervorgeht. Aber es gibt doch kein ungebrochenes Leben.
Jongen:
Das ist schon richtig. Das Ungebrochene wird man niemals realisieren können. Aber als
regulative Idee, mit Kant gesprochen, kann es doch Orientierung geben. Wir waren jetzt
länger in einer historischen Phase der Differenz und der Nichtidentität, der Abkehr vom
Eigenen. Diese Phase ist offenkundig an ein Ende gelangt, daraus geht nichts Produktives
mehr hervor. Wir rücken jetzt in eine neue Identitätsphase ein. Davor muss man keine Angst
haben, denn die Hauptgefahr liegt heute ja nicht darin, dass wir in Identität erstarren und
in einen aggressiven Nationalismus verfallen, sondern dass wir das Eigene ganz
verlieren.
ZEIT:
Sehen Sie sich als Teil der identitären Bewegung in Europa?
Jongen:
Soweit ich sehe, ist das eine Jugendbewegung, die den Identitätsaspekt in jugendlichem
Überschwang geradezu glorifiziert. Ich würde mich dem nicht anschließen wollen, weil
zweifellos ein verkürztes Verständnis von Kultur dahintersteht, aber ich sehe es trotzdem
mit Sympathie, weil da versucht wird, das aus dem Lot geratene Gebilde der europäischen
Kultur von der Identitätsseite her zu korrigieren.
ZEIT:
Dann müssen wir jetzt dringend darüber sprechen, wie Sie Identität definieren. Ist das
eine kulturelle, eine staatsbürgerliche oder ethnische Kategorie?
Jongen:
Darauf möchte ich eine konservative Antwort geben, wenn denn konservativ bedeutet, sich
immer nahe an der Empirie zu bewegen, auf die konkreten Traditionen zu achten und gegenüber
abstrakten Konstruktionen skeptisch zu sein. Natürlich hat es zwischen den Völkern und
Nationen immer Austausch gegeben, natürlich konnte ein Fremder immer Deutscher werden, davon
zeugen die vielen eingebürgerten Namen von Klonovsky bis Kubitschek. Diese Menschen sind
nicht weniger deutsch als andere, oft im Gegenteil. Das kann aber zugleich nicht heißen,
dass man innerhalb kurzer Zeit das gesamte Volk durch Afrikaner und Araber ersetzen könnte
ohne eine völlige Änderung seines Charakters. Die Identität eines Volkes ist eine Mischung
aus Herkunft, aus Kultur und aus rechtlichen Rahmenbedingungen. Der Pass alleine macht noch
keinen Deutschen. Als AfD sind wir deshalb dafür, das sogenannte Abstammungsprinzip im
Staatsbürgerschaftsrecht, das ja bis vor Kurzem noch gegolten hat, wieder einzuführen, um
nicht eine zu rasche Einbürgerung von Menschen zuzulassen, die kaum der Sprache mächtig sind
und keinen inneren Bezug zu diesem Land haben. Man muss bei aller Zuwanderung sehr darauf
achten, dass die Assimilation, die Verähnlichung, gewährleistet bleibt.
ZEIT:
Gab es in Ihrer Biografie ein politisches Erweckungserlebnis?
Jongen:
Das Politische als eine Dimension des philosophischen Nachdenkens interessiert mich schon
sehr lange, die Tagespolitik habe ich aber bis vor wenigen Jahren nicht sehr ernst genommen.
Meine Studienzeit war ja rückblickend eine Zeit, in der fast schon das Ende der Geschichte
erreicht war. Mehr oder weniger austauschbare Parteien stritten sich über Verwaltungsfragen.
Das hat sich mit dem islamistischen Terror, mit der Finanzkrise und vollends mit der
Flüchtlingskrise gründlich geändert. Auf politischer Ebene fallen jetzt wieder echte
Entscheidungen. Ein einschneidendes Erlebnis war für mich die Einführung des
ESM-Rettungsschirms durch die EU und die schockierende Erfahrung, dass der deutsche
Bundestag quasi über Nacht einem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat, das wichtige
Haushaltsrechte des Parlaments einfach außer Kraft setzt. Kurz darauf bin ich der AfD
beigetreten, die in dieser Zeit gegründet wurde.
ZEIT:
Wen haben Sie vorher gewählt?
Jongen:
In Südtirol, wo ich die längste Zeit gelebt habe, die Südtiroler Volkspartei für das
italienische Parlament. Und zwar einfach deshalb, weil es für Deutschsprachige dort fast
schon alternativlos ist, die eigene Interessenvertretung zu wählen. Ansonsten hatte ich
Sympathien für die grüne Seite, vor allem wegen des ökologischen Gedankens, wie auch für die
Liberalen. Westerwelles Spaßpartei hatte mich aber früh wieder abgeschreckt, ebenso wie die
Windrad- und die Gender-Manie der Grünen.
ZEIT:
Wie sehr sind Ihre politischen Überzeugungen von Ihrem philosophischen Werdegang
beeinflusst?
Jongen:
Nach Schopenhauer war Nietzsche für mich ein frühes prägendes Lektüreerlebnis. Nietzsche
ist zwar kein klassisch politischer Philosoph, dafür aber umso mehr für das
Psycho-Politische zuständig. Diese Dimension ist auch für meinen Zugang zur praktischen
Politik die bestimmende. Von dem, was Nietzsche in der
Genealogie der Moral
über
das Ressentiment schreibt, lässt sich eine direkte Linie zum Gutmenschentum ziehen, dem sich
die AfD entgegenstellt. Und unter der seltenen Spezies der lebenden Philosophen war Peter
Sloterdijk mein wichtigster Einfluss.
ZEIT:
Und wie sieht Sloterdijk Ihre politische Tätigkeit?
Jongen:
Nun, er hat ja ein paar öffentliche Aussagen dazu gemacht, die weniger freundlich waren.
Auch die AfD sieht er bekanntlich kritisch. Mein Eindruck ist aber, dass seine Äußerungen zur Flüchtlingskrise so fern zu dem nicht stehen, was ich sage und was auch die Position der
AfD ist. Und das ist letztlich wichtiger und auch wirksamer als seine oder meine
persönlichen Befindlichkeiten. ZEIT
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