Wo sind die Feierstunden zu zwanzig Jahren Rechtschreibreform? Wo
sind die Hymnen der Feuilletonisten auf eine Reform, die endlich das
Rechtschreiben erleichtert, das Lernen der Regeln vereinfacht und die
Fehlerzahl drastisch verringert habe? Wo ist die Einladung für den
Empfang bei der Kultusministerkonferenz, auf dem nach einer feierlichen
Ansprache den verdienstvollen Reformern der Konrad-Duden-Orden verliehen
wird?
Diese Feierlichkeiten gibt es nicht. Aus gutem Grund, denn die
traurige Wahrheit sieht tatsächlich so aus: Die Rechtschreibreformer
haben keines ihrer Versprechen halten können. Die Reform hat keine
Verbesserungen gebracht, schlimmer noch: die Rechtschreibleistungen der
Schüler sind laufend schlechter geworden. Die deutsche Rechtschreibung
gleicht einem großen Müllhaufen, über den Gras gewachsen ist, auf einer
nur dünnen Schicht Humus. Stochert man nur ein wenig, kommen die
stinkenden Altlasten zum Vorschein. Statt einer Feierstunde wäre also
eher eine Schweigeminute angebracht.
Kein Mensch kann die komplizierten Regelungen fehlerfrei beherrschen.
Der Germanist Uwe Grund forscht seit vielen Jahren über die schulischen
Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform. Jetzt hat
er seine Ergebnisse in einem Buch dokumentiert. Demnach haben sich in
Vergleichsdiktaten die Fehlerzahlen zwischen 1970/1974 und 2004/2006
annähernd verdoppelt.
Dabei erweisen sich gerade die reformierten Bereiche der Orthographie
als besonders fehlerträchtig: die Groß- und Kleinschreibung und die
Getrennt- und Zusammenschreibung. Die Änderung der s-Schreibung,
auffälligster Teil der Reform, hat die Zahl der Fehler nicht senken
können, im Gegenteil: Bei der Unterscheidung von „dass“ (daß) und „das“
haben die Schüler mehr Schwierigkeiten als früher.
Freilich sind am heutigen Rechtschreibdesaster auch Irrwege schuld
wie das Schreiben nach Gehör, eine verheerende Methode, nach der immer
noch an vielen Grundschulen unterrichtet wird. Mit ihr prägt man sich
zunächst Rechtschreibfehler ein, die man dann später wieder mühsam
verlernen muß. Doch der Grundstein für die heutige Schreibverwirrung
wurde vor zwanzig Jahren gelegt, als politische Amtsträger aus acht
Ländern die Zwischenstaatliche „Absichtserklärung zur Neuregelung der
deutschen Rechtschreibung“ unterzeichneten.
Im selben Jahr 1996 ergab die erste Allensbach-Umfrage zur
Rechtschreibreform, daß 75 Prozent der Deutschen die Rechtschreibreform
ablehnten. Diese hohe Ablehnung sank auch in den folgenden Jahren nicht.
Für die politisch Verantwortlichen war das jedoch kein Grund, von der
größten sprachpolitischen Fehlentscheidung des 20. Jahrhunderts
abzurücken.
Das Durchdrücken der Reform gegen den Willen des deutschen Volkes ist
ein Musterbeispiel für das Durchsetzen einer scheinbar alternativlosen
Politik. Es hatte verheerende Folgen für die Verfassung unseres Landes,
daß diese antidemokratische Vorgehensweise von Erfolg gekrönt war. Zum
ersten erwies sich, daß man politische Entscheidungen auch problemlos am
Volk vorbei verwirklichen kann, ohne daß Konsequenzen zu befürchten
sind. Rechtschreibchaos? Sparerenteignung? Flüchtlingskrise? Keine
Regierung muß befürchten, wegen solcher Fehlentscheidungen abgewählt zu
werden.
Zum zweiten zeitigte das antidemokratische Vorgehen einen kaum
wiedergutzumachenden Vertrauensverlust gegenüber dem Staat. Höhepunkt
der Volksverachtung und -verhöhnung war das nachträgliche Aufheben eines
Volksentscheides. 1998 hatten die Schleswig-Holsteiner entschieden, die
Rechtschreibreform aufzuheben. Nur ein Jahr später kassierte der
Landtag diese Entscheidung – einstimmig. Er konnte sich dabei auf ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1998 berufen.
Der Prozeß vor dem höchsten Gericht war allerdings von Anfang an eine
Posse gewesen, denn das Urteil stand schon vorher fest. Die
Verfassungsrichter hatten zur Urteilsfindung 13 Institutionen angehört:
nur zwei davon waren reformkritisch. Bei vielen Bürgern blieb
schließlich der Eindruck haften, Widerstand lohne sich nicht, die
Herrschenden machten ohnehin, was sie wollen.
Der Eindruck der Ohnmacht änderte sich nur für kurze Zeit, als es den
Rechtschreibschützern im August 2004 gelang, die Axel Springer AG und
das Nachrichtenmagazin Spiegel zur Abkehr von der Reform zu
bringen. Die Kultusministerkonferenz handelte rasch. Sie löste die
Zwischenstaatliche Kommission auf und setzte den Rechtschreibrat ein.
Dieser rettete die Reform, indem er zahllose traditionelle Schreibweisen
wieder zuließ, freilich ohne die reformierten Schreibweisen ungültig zu
machen. Ein Variantenchaos entstand.
Zwanzig Jahre Rechtschreibreform bedeuten auch zwanzig Jahre
Widerstand. Nun wollen es die alten Haudegen der ersten Stunde noch
einmal wissen – etwa der Rechtschreibrebell Friedrich Denk und der
Verleger Matthias Dräger. Im Oktober 1996 hatten sie auf der Buchmesse
300 Intellektuelle davon überzeugt, eine „Frankfurter Erklärung“ gegen
die Reform zu unterzeichnen. 2016 kehren sie mit einer neuen Aktion auf
die Messe zurück. 20.000 Euro Preisgeld setzen sie für einen
Schreibwettbewerb ein.
Die fünf besten Beiträge werden mit dem Frankfurter
Orthographie-Preis ausgezeichnet. Als Preisrichter entscheiden unter
anderem Lehrerverbandspräsident Josef Kraus, Literaturnobelpreisträgerin
Elfriede Jelinek und der Schauspieler Mario Adorf. Das letzte Wort zur
Rechtschreibreform ist also noch längst nicht gesprochen.
JF 33/16
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