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Dienstag, 16. August 2016

Mad Germany

Fast ein Jahr nach Bekanntwerden des Abgasskandals steckt der Volkswagenkonzern tief in der Krise. Die betrügerische Software, die in elf Millionen Diesel-Autos niedrige Abgaswerte vortäuschte, hat in drei für den Konzern existenziellen Bereichen die Atmosphäre tödlich vergiftet: Anleger, Kunden und Behörden fühlen sich massiv betrogen. Immer neue Strafzahlungen, Verkaufsverbote und Schadensersatzforderungen kommen auf den Autohersteller zu. Erstmals spricht VW-Chef Matthias Müller davon, dass die Existenz des Konzerns auf dem Spiel stehe.

Ein Feuerwehrmann wird auf der Internetseite des Volkswagen-Konzerns für den Standort Wolfsburg gesucht. Brände, Explosionen oder Unfälle soll er bekämpfen. Höhenangst und Klaustrophobie dürfe er nicht mitbringen, heißt es in der Stellenausschreibung. Verlangt werden Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit und handwerkliches Geschick.
Wer die neuesten Nachrichten und Entwicklungen rund um Deutschlands viertgrößten Arbeitgeber verfolgt, fragt sich allerdings unwillkürlich, warum wird eigentlich nur ein Feuerwehrmann gesucht, wo es doch ganze Hundertschaften brauchen wird. Denn fast genau ein Jahr, nachdem der Abgasskandal um die Dieselfahrzeuge des Autoherstellers bekannt wurde, brennt es an allen Ecken und Enden. Die jüngsten Flammenherde: Am 5. August fällte das Oberlandesgericht in Braunschweig eine Entscheidung, auf die mehrere Tausend zornige Besitzer von VW-Aktien gewartet hatten. In einem Musterverfahren wird jetzt geklärt, ob ihnen Schadensersatz zusteht. Der Wert ihrer Aktien brach massiv ein, nachdem der Dieselskandal am 18. September 2015 bekannt wurde. Der Vorwurf an die VW-Spitzenmanager: Sie haben schon Jahre früher von der manipulierten Software gewusst und hätten die Anleger vor dem Desaster warnen müssen. Zu den klagewilligen Betroffenen gehört unter anderem der Freistaat Bayern. Sein Pensionsfonds verlor mehrere hunderttausend Euro beim Crash der VW-Aktien. Baden-Württemberg und Hessen passierte ähnliches. Auch dort wird eine Klage erwogen, zumal die Erfolgsaussichten hoch sind. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) ist bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass der Konzern die Aktionäre zu spät über „Dieselgate“ und die Folgen informiert hat.
Das Urteil im Braunschweiger Musterprozess soll Ende Jahres erfolgen. Bislang summierte sich die Höhe der Schadensersatzforderungen auf vier Milliarden Euro. Insgesamt geht es wohl um eine Summe im zweistelligen Bereich.
In Südkorea geht unterdessen gar nichts mehr. Am 2. August hat das Land einen Verkaufsstopp für 80 Modelle des Unternehmens erlassen. Gelichzeitig entzieht das Umweltministerium 83000 Autos der konzerneigenen Marken Volkswagen, Audi und Bentley die Zulassung. Sie sei aufgrund falscher Angaben zum Schadstoffausstoß und zur Lärmentwick-lung erfolgt. Schon einige Tage zuvor hatte das Land Haftbefehl gegen einen der dortigen VW-Manager erlassen. Dokumentenfälschung und Verletzung der Gesetze zur Luftreinhaltung werden ihm vorgeworfen.
Eindeutige Worte unterdessen von einem Richter im nordrhein-westfälischen Krefeld: Er spricht von massenhaftem Betrug und gibt zwei Klägern Recht, die ihre beiden Wagen, einen Audi A6 und einen Audi A1, an den Händler zurückgeben möchten. Nach dem Landgericht München ist es das zweite Mal, dass ein Gericht im Abgasskandal ein Rücktrittsrecht befürwortet. Das endgültige Urteil fällt Mitte September. Schwindelerregende Summen würden fällig, wenn alle betroffenen Autobesitzer ihre VWs, Seats, Skodas oder Audis zurückgeben könnten, statt sie, wie angeboten, umrüsten zu lassen. Für den Krefelder Richter ist die Sachlage allerdings klar: Es könne dem Kläger nicht zugemutet werden, sein Fahrzeug auch noch von dem Betrüger reparieren zu lassen.
In Brüssel flammt unterdessen fast zeitgleich ein weiterer Brandherd auf – heiß genug, um viele weitere Milliarden in Flammen aufgehen zu lassen. Die polnische Politikerin Elzbieta Bienkowska, in der EU ist sie als Kommissarin unter Jean-Claude Juncker für die Industrie zuständig, fordert Volkswagen auf, den europäischen Käufern betroffener Dieselfahrzeuge ähnlich hohe Entschädigungen zu zahlen, wie sie bereits in den USA zugesagt wurden. Was sich für die hiesigen Besitzer der Schummelautos nur gerecht anhört, könnte für Volkswagen das Aus bedeuten. In den USA sind 500000 VW-Fahrer betroffen, in Europa sind es acht Millionen. Knapp 150 Milliarden Euro würde es kosten, die Forderung der Kommissarin zu erfüllen. Auch Bittbesuche von VW-Marken-Chef Herbert Diess und Konzern-Chef Matthias Müller haben die ehemalige Regionalpolitikerin der Woiwodschaft Schlesien bislang nicht von ihrem Kurs abgebracht. Müller danach pessimistisch in einem Interview mit der „Welt“: „Was die Forderung wirtschaftlich für unser Unternehmen bedeuten würde, muss ich wohl nicht weiter ausführen.“
Zu den Stellenanforderungen für Feuerwehrleute im Volkswagenkonzern sollte auch diese Eigenschaft gehören: Durchhaltewille – sogar in scheinbar aussichtslosen Situationen.
    Frank Horns

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