Fast ein Jahr nach Bekanntwerden des Abgasskandals steckt der
Volkswagenkonzern tief in der Krise. Die betrügerische Software, die in
elf Millionen Diesel-Autos niedrige Abgaswerte vortäuschte, hat in drei
für den Konzern existenziellen Bereichen die Atmosphäre tödlich
vergiftet: Anleger, Kunden und Behörden fühlen sich massiv betrogen.
Immer neue Strafzahlungen, Verkaufsverbote und Schadensersatzforderungen
kommen auf den Autohersteller zu. Erstmals spricht VW-Chef Matthias
Müller davon, dass die Existenz des Konzerns auf dem Spiel stehe.
Ein
Feuerwehrmann wird auf der Internetseite des Volkswagen-Konzerns für
den Standort Wolfsburg gesucht. Brände, Explosionen oder Unfälle soll er
bekämpfen. Höhenangst und Klaustrophobie dürfe er nicht mitbringen,
heißt es in der Stellenausschreibung. Verlangt werden Zuverlässigkeit,
Teamfähigkeit und handwerkliches Geschick.
Wer die neuesten
Nachrichten und Entwicklungen rund um Deutschlands viertgrößten
Arbeitgeber verfolgt, fragt sich allerdings unwillkürlich, warum wird
eigentlich nur ein Feuerwehrmann gesucht, wo es doch ganze
Hundertschaften brauchen wird. Denn fast genau ein Jahr, nachdem der
Abgasskandal um die Dieselfahrzeuge des Autoherstellers bekannt wurde,
brennt es an allen Ecken und Enden. Die jüngsten Flammenherde: Am 5.
August fällte das Oberlandesgericht in Braunschweig eine Entscheidung,
auf die mehrere Tausend zornige Besitzer von VW-Aktien gewartet hatten.
In einem Musterverfahren wird jetzt geklärt, ob ihnen Schadensersatz
zusteht. Der Wert ihrer Aktien brach massiv ein, nachdem der
Dieselskandal am 18. September 2015 bekannt wurde. Der Vorwurf an die
VW-Spitzenmanager: Sie haben schon Jahre früher von der manipulierten
Software gewusst und hätten die Anleger vor dem Desaster warnen müssen.
Zu den klagewilligen Betroffenen gehört unter anderem der Freistaat
Bayern. Sein Pensionsfonds verlor mehrere hunderttausend Euro beim Crash
der VW-Aktien. Baden-Württemberg und Hessen passierte ähnliches. Auch
dort wird eine Klage erwogen, zumal die Erfolgsaussichten hoch sind. Die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) ist bereits zu
dem Ergebnis gekommen, dass der Konzern die Aktionäre zu spät über
„Dieselgate“ und die Folgen informiert hat.
Das Urteil im
Braunschweiger Musterprozess soll Ende Jahres erfolgen. Bislang
summierte sich die Höhe der Schadensersatzforderungen auf vier
Milliarden Euro. Insgesamt geht es wohl um eine Summe im zweistelligen
Bereich.
In Südkorea geht unterdessen gar nichts mehr. Am 2. August
hat das Land einen Verkaufsstopp für 80 Modelle des Unternehmens
erlassen. Gelichzeitig entzieht das Umweltministerium 83000 Autos der
konzerneigenen Marken Volkswagen, Audi und Bentley die Zulassung. Sie
sei aufgrund falscher Angaben zum Schadstoffausstoß und zur
Lärmentwick-lung erfolgt. Schon einige Tage zuvor hatte das Land
Haftbefehl gegen einen der dortigen VW-Manager erlassen.
Dokumentenfälschung und Verletzung der Gesetze zur Luftreinhaltung
werden ihm vorgeworfen.
Eindeutige Worte unterdessen von einem
Richter im nordrhein-westfälischen Krefeld: Er spricht von massenhaftem
Betrug und gibt zwei Klägern Recht, die ihre beiden Wagen, einen Audi A6
und einen Audi A1, an den Händler zurückgeben möchten. Nach dem
Landgericht München ist es das zweite Mal, dass ein Gericht im
Abgasskandal ein Rücktrittsrecht befürwortet. Das endgültige Urteil
fällt Mitte September. Schwindelerregende Summen würden fällig, wenn
alle betroffenen Autobesitzer ihre VWs, Seats, Skodas oder Audis
zurückgeben könnten, statt sie, wie angeboten, umrüsten zu lassen. Für
den Krefelder Richter ist die Sachlage allerdings klar: Es könne dem
Kläger nicht zugemutet werden, sein Fahrzeug auch noch von dem Betrüger
reparieren zu lassen.
In Brüssel flammt unterdessen fast zeitgleich
ein weiterer Brandherd auf – heiß genug, um viele weitere Milliarden in
Flammen aufgehen zu lassen. Die polnische Politikerin Elzbieta
Bienkowska, in der EU ist sie als Kommissarin unter Jean-Claude Juncker
für die Industrie zuständig, fordert Volkswagen auf, den europäischen
Käufern betroffener Dieselfahrzeuge ähnlich hohe Entschädigungen zu
zahlen, wie sie bereits in den USA zugesagt wurden. Was sich für die
hiesigen Besitzer der Schummelautos nur gerecht anhört, könnte für
Volkswagen das Aus bedeuten. In den USA sind 500000 VW-Fahrer betroffen,
in Europa sind es acht Millionen. Knapp 150 Milliarden Euro würde es
kosten, die Forderung der Kommissarin zu erfüllen. Auch Bittbesuche von
VW-Marken-Chef Herbert Diess und Konzern-Chef Matthias Müller haben die
ehemalige Regionalpolitikerin der Woiwodschaft Schlesien bislang nicht
von ihrem Kurs abgebracht. Müller danach pessimistisch in einem
Interview mit der „Welt“: „Was die Forderung wirtschaftlich für unser
Unternehmen bedeuten würde, muss ich wohl nicht weiter ausführen.“
Zu
den Stellenanforderungen für Feuerwehrleute im Volkswagenkonzern sollte
auch diese Eigenschaft gehören: Durchhaltewille – sogar in scheinbar
aussichtslosen Situationen.
Frank Horns
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