Russlands Präsident Wladimir Putin fühlt sich von
allen Seiten bedroht und rüstet vor allem an den Grenzen zu
Nato-Ländern auf. Vor wenigen Tagen hat er eine Reihe wichtiger Posten
im Land neu besetzt. Vieles deutet darauf hin, dass er eine
Palastrevolte befürchtet und vor der Parlaments- und der Präsidentenwahl
seine Macht sichern will.
Kritiker unken, dass Putins Regierungsstil sich gerade im Übergang vom breschnewschen zum stalinschen befinde. Das System sei einfach und transparent: Nur einer im Land trägt alle Entscheidungen, gestützt von zwei Machtstrukturen – der erst kürzlich gegründeten Nationalgarde und dem Militär.
Nahrung für solch eine düstere Prognose liefert unter anderem die militärische Aufrüstung an Russlands Außengrenzen. In der Ostsee-Exklave Königsberger Gebiet fühlt Russland sich durch Nato-Übungen und die verstärkte Truppenpräsenz im Baltikum bedroht. Auch an den Grenzen zur Ukraine und auf der Krim verstärkt der Kreml seine Truppen gegen das verstärkte Vordringen der Nato. Seit diesem Monat stationiert Russland sein modernstes Luftabwehrsystem S-400 dauerhaft im Osten der Halbinsel. Es dient der Luft- und Raketenabwehr und hat eine Reichweite von bis zu 400 Kilometern.
Anlass für wilde Spekulationen geben mehrere überraschende Personalentscheidungen, wie die plötzliche Absetzung von Sergej Iwanow, dem Chef der mächtigen Kremlverwaltung und langjährigen Begleiter Putins noch aus gemeinsamen KGB-Zeiten. Hätte Iwanow, der einst Verteidigungsminister und Ministerpräsident unter Putin war und schon 2007 als Kronprinz gehandelt wurde, ihm gefährlich werden können?
Über die Hintergründe ist offiziell nichts bekannt. Iwanows neuer Posten
als Spezialbeauftragter des Kreml für „Fragen des Naturschutzes, der
Ökologie und des Transports“ stellt jedenfalls eine drastische
Degradierung dar.
Neuer Chefverwalter des Kreml wird Iwanows bisheriger
Stellvertreter Anton Wajno, ein 44-jähriger, im estnischen Reval
geborener ehemaliger Diplomat.
Kurz zuvor waren schon in den weit vom Zentrum entfernten Grenzregionen Königsberger Gebiet und Sibirien Köpfe gerollt. Für die Königsberger war es ein Schock, als ihr Gouverneur Nikolaj Zukanow vorzeittig entlassen und durch den Geheimdienstler Jewgenij Sinitschew ersetzt wurde (siehe PAZ Nr. 31). Ebenso überraschend wurde der Ex-Marineoffizier Sergej Menajlo, bisher Gouverneur von Sewastopol/Krim, zum bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten im Föderalen Bezirk Sibirien ernannt. Beide sind sogenannte „Silowiki“ (russische Bezeichnung für Vertreter des Geheimdienstes oder des Militärs). Beiden Regionen gemeinsam ist die Gefahr von Separatismusbestrebungen.
Kurz zuvor waren schon in den weit vom Zentrum entfernten Grenzregionen Königsberger Gebiet und Sibirien Köpfe gerollt. Für die Königsberger war es ein Schock, als ihr Gouverneur Nikolaj Zukanow vorzeittig entlassen und durch den Geheimdienstler Jewgenij Sinitschew ersetzt wurde (siehe PAZ Nr. 31). Ebenso überraschend wurde der Ex-Marineoffizier Sergej Menajlo, bisher Gouverneur von Sewastopol/Krim, zum bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten im Föderalen Bezirk Sibirien ernannt. Beide sind sogenannte „Silowiki“ (russische Bezeichnung für Vertreter des Geheimdienstes oder des Militärs). Beiden Regionen gemeinsam ist die Gefahr von Separatismusbestrebungen.
In der Königsberger Exklave wurde jetzt sogar erstmals ein Verfahren gegen einen Mann aus dem Samland eröffnet, der die Rückbenennung „Kaliningrads“ in Königsberg gefordert hatte. Ihm drohen bis zu vier Jahren Haft. Sibirien hingegen droht die Überfremdung durch chinesische Bauern, die immer weiter in das dünn besiedelte Land hineindrängen. Zwar profitiert die russische Wirtschaft von der Wertschöpfung, allerdings sorgt die Bewirtschaftung russischen Bodens durch chinesische Bauern auch für Unruhe, da eine „schleichende chinesische Übernahme“ im Osten Russlands befürchtet wird.
Für Wladimir Putin heißt es in dieser Situation: Stärke zeigen und seine Macht behaupten. Denn geopolitisch zischt und brodelt es an allen Ecken des Riesenreichs. Der russische Politologe Dmitrij Oreschkin glaubt, dass Putin durch die Besetzung wichtiger Posten mit „Silowiki“ einem möglichen Umsturz vorbeugen wolle. Putin sei dabei, einen neuen Eisernen Vorhang um sich zu ziehen. Russland sehe sich einer besorgniserregenden Einkreisung von allen Seiten gegenüber: im Westen die Nato, in Fernost die chinesische Expansion und im Süden flackern derzeit Konflikte im Kaukasus wieder auf, wofür der Kreml westliche Denkfabriken wie den amerikanischen Atlantic Council verantwortlich macht.
In Armenien tobt ein Machtkampf zwischen rechter Opposition und der Regierung, und auch der Konflikt in der Region Berg-Karabach sorgt wieder für Schlagzeilen. Obwohl Russland und die Türkei bislang erbitterte Gegner in dem Konflikt waren – Russland unterstützt Armenien, während die Türkei zu Aserbajdschan hält – stützen türkische Analysten nun, nach der jüngsten Versöhnung zwischen Putin und Erdogan, die These, dass US-Organisationen die armenische Regierung stürzen wollten, um den russischen Einfluss im Südkaukasus zurückzudrängen. Ebenso beunruhigen Russland islamische Konflikte in Kasachstan. Armenien und Kasachstan sind enge Verbündete, die sich direkt an den Grenzen zu Russland befinden.
Vor der Staatsduma-Wahl am 18. Dezember und der 2018 anstehenden Präsidentenwahl wird Putin alles daran setzen, sein Riesenreich wieder stark zu machen, die Wirtschaftskrise zu überwinden, neue Partner zu finden und Widersacher auszuschalten. Putin-Kritiker sehen Parallelen zu Stalin, dessen Misstrauen gegen die alte Garde der Bolschewiki 1936 und in der Folgezeit so groß wurde, dass er sie gegen ihm ergebene Technokraten austauschte. Manuela Rosenthal-Kappi
Sehr geehrte Frau Krone-Schmalz,
Sie haben ein Buch publiziert mit dem schönen Titel Russland verstehen.
Ich bin seit der Aufnahme meines Slavistik-Studiums 1978
bis zum heutigen Tag, als Professor für Slavische Philologie an der
Universität Göttingen jemand, den man einen Russland-Versteher nennen
könnte. Viele Monate meines Lebens habe ich in Moskau, Petersburg und
der russischen Provinz verbracht, ich publiziere inzwischen fast nur
noch auf Russisch, zu Kolleginnen und Kollegen von 20 verschiedenen
Universitäten von Petersburg bis Cheljabinsk unterhalte ich nicht nur
kollegiale, sondern auch freundschaftliche Beziehungen. Meine Liebe zu
Russland wurde geboren aus der Liebe zur russischen Literatur, dieser in
der welt einmaligen Kombination tiefen Nachdenkens mit artistischer
Virtuosität. Und gerade weil ich Russland liebe, lassen mich die
Ereignisse seit der Annektion der Krim nicht mehr ruhig schlafen. Diese
Ereignisse und die mediale Begleitmusik dazu aus den staatlichen Medien
der Russischen Föderation fügen mir einen geradezu physischen Schmerz
zu. Sie als Russland-Kennerin unter den Medienwissenschaftlern haben
doch sicherlich die offizielle russische Berichterstattung zur Ukraine
verfolgt. Ich frage Sie – was gibt es da zu verstehen? Selbst wenn man
sich in Bezug auf die Ursachen des Krieges streng um Neutralität bemüht,
selbst wenn man realpolitisch von Interessen und Einflussphären und
nicht von Demokratie und Menschenrechten spricht – selbst dann ist diese
Berichterstattung absolut unerträglich, geradezu abstoßend. Ich war in
der Brezhnev-Zeit ein Jahr lang als Doktorand in Moskau, ich weiß, was
sowjetische Propaganda war, doch sie reichte nicht im entferntesten an
dieses Gemisch von Lügen und Hetze heran, das, welcher Meinung sie auch
immer zur Ukraine sind, meine Gesprächspartner in Russland auch durchweg
ablehnen. Warum macht Sie als Medienwissenschaftlerin das nicht
nachdenklich? Warum ruft das nicht Ihre Empörung als Journalistin
hervor? Sprechen Sie darüber in ihren medienwissenschaftlichen
Lehrveranstaltungen? Und vor allem: macht Sie das nicht nachdenklich in
bezug auf das, was man als „Verstehen“ Russlands bezeichnen könnte?
Ich kenne die Seelenlage der Menschen in Russland sehr
gut, berufsbedingt natürlich vor allem der russischen Intelligenzia.
Tatsächlich stimmen viele von ihnen nicht in die vehemente Kritik des
Westens an Putins Politik ein. Doch nicht aus Solidarität mit der
Regierung. Kennen Sie das nicht, dieses charakteristische russische
Lebensgefühl, diese Mischung aus Resignation, Angst und Konzentration
auf die Alltagsdinge? Dieses reflexhafte Wegschauen von der politischen
Bühne? „Lies nicht soviel Zeitung“, raten mir meine russischen Freunde,
wenn ich ihnen schreibe, wie sehr mich der Krieg Russlands gegen die
Ukraine seelisch belastet. Nicht Putin, sondern diese Haltung zu
verstehen heißt Russland verstehen! Und diese Haltung spielt einer
politischen Führung in die Hände, die, da vom Volk gewählt, in einer
repräsentativen Demokratie, im Namen dieses Volkes agiert. „In eurem
Namen wird in der Ukraine getötet“, schreibe ich meinen russischen
Freunden, doch wie Sie genauso wissen wie ich, sieht man als Russe sein
Verhältnis zur Obrigkeit anders. Sie ist ihm auferlegt, wie ein
unvermeidliches Übel. Diese Haltung kannten wir als Haltung des
Sowjetmenschen, und wir hatten die Illusion, sie würde sich nach dem
Ende der Sowjetunion wandeln. Bürgerrechte, Bürgerbeteiligung, Übernahme
persönlicher Verantwortung, soziale Eigeninitiative, all das konnte
sich auch nach dem Ende der Sowjetunion kaum entwickeln. Umso
erstaunlicher ist die jüngste Entwicklung der Ukraine, die
Majdan-Bewegung. Blutete Ihnen nicht das journalistische Herz, wenn die
Aktivisten für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft auf dem
Majdan in Moskau als vom Westen gesteuerte faschistische Banden
verunglimpft wurden?
Sie und ich, wir versuchen beide, Russland zu verstehen.
Wenn wir dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, dann liegt das
nicht am unterschiedlichem Informationsstand oder an einem
unterschiedlichen politischen Hintergrund. Es liegt daran, wem wir
jeweils unsere Empathie schenken, dem russischen Volk oder der
politischen Führung im Kreml. Doch versuchen wir das aus meiner Sicht
eigentlich Unstatthafte, versuchen wir uns sogar in die politische
Führung Russlands einzufühlen. Hier wird am häufigsten das Argument der
Einkreisungsängste angeführt. Und das Argument, der Westen habe „den
kalten Krieg gewonnen“, weil Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion
schwach gewesen sei, jetzt aber kehre es zu alter Stärke zurück und
beansprucht seine alte Einflusssphäre zurück. Ja, auch Frankreich hatte
seine Probleme mit dem Zerfall seines Kolonialreiches und führte in
Algerien Krieg. Wie stehen Sie als Historikerin zum Algerienkrieg? War
es ein gerechter oder zu rechtfertigender Krieg?
In einem Punkt gebe ich Putin recht. Ja, der Westen hat
den kalten Krieg gewonnen. Dies geschah aus zwei Gründen. Zum einen hat
das Modell einer multinationalen Union der sozialistischen
Sowjetrepubliken nie wirklich funktioniert. Natürlich wurde Russland als
Kolonialmacht, als Fremdherrschaft empfunden. Wenn eine solche Macht
Schwäche zeigt, nutzen die kolonialisierten Völker die Gelegenheit und
steigen aus. Das Problem ist nur – wie schütze ich mich dann vor dem
Zugriff der möglicherweise wiedererstarkenden Kolonialmacht? Ich muss
mir starke Verbündete suchen. Polen suchte und fand zwischen 1918 und
1939 England und Frankreich, die Tschechoslowakei, 1938 im Stich
gelassen von Frankreich und England, fand die Vereinigten Staaten von
Amerika. Die „Satelliten“ und Unionsrepubliken der Sowjetunion fanden
die NATO. Wer aber niemanden fand, der ist jetzt verraten und verkauft.
Kann es ein stärkeres Argument für die NATO geben? Oder sehen Sie das
transatlantische Bündnis als Zwangsgemeinschaft unter der Fuchtel der
USA? Warum hat dann nie jemand versucht, aus ihr auszutreten, nicht
einmal der selbstbewusste De Gaulle? Nicht einmal die Erdogan-Türkei?
Das ist doch merkwürdig!
Der Westen hat den kalten Krieg aber noch aus einem
anderen Grund gewonnen. Neben den beiden „hard powers“ Ökonomie und
Militär, über die ein Staat verfügen kann, gibt es noch eine „soft
power“, die Attraktivität, deren Gewicht, so der Harvard-Politologe
Joseph S. Nye, meist unterschätzt wird. Russland hat einfach kein
attraktives Gesellschaftsmodell, deshalb kam im Regionalparlament der
ethnisch ja tatsächlich ganz überwiegend russischen Krim die Partei,
die offen den Anschluss an Russland propagierte, vor dem Staatsstreich,
bei dem sie die Macht übernahm, auf ganze 5% der Stimmen. Auch viele
ethnische Russen in Estland und Lettland sind mit dem
Gesellschaftsmodell der EU ganz zufrieden und haben keine Lust auf
Repatriierung, selbst wenn es ihren ökonomisch zum Teil schlechter geht
als in der Sowjetunion. Russen sind pragmatischer, als unser Klischee
von der russischen Seele es wahrhaben möchte. Natürlich fühlen sich die
Menschen im Donbass Russland kulturell näher als der Westukraine, aber
wenn die Ukraine tatsächlich die Chance hat, sich zu einer
funktionierenden Demokratie mit eingedämmter Korruption zu entwickeln –
würden sie trotzdem gehen wollen? Oder reicht ihnen für ihre russische
Seele nicht Russen-Pop und russischsprachiges Fernsehen – was sie auch
ohne Anschluss haben können? Die Ukraine war kein Pulverfass. Wie in
Russland waren die Menschen in der Ostukraine auf ihre Alltagsprobleme
fixiert und wollten mit Politik nichts zu tun haben. Ihnen war egal, ob
sie zur Ukraine oder zu Russland gehören. Und jetzt sind sie plötzlich
bereit, mit Waffengewalt dafür zu kämpfen? Das kommt sicherlich nicht
vom Russen-Pop. Da geht es nämlich immer nur um Liebe.
Frau Krone-Schmalz, mein Beruf dient wie der Ihre der
Vermittlung, dem Verstehen, dem Dialog. Und als glühender Verehrer der
russischen Kultur kann ich nur sagen: von dieser politischen Führung in
Russland werden alle Ideale dieser Kultur in den Schmutz getreten –
Tolstojs Pazifismus, Dostoevskijs Verantwortungsgefühl, Čechovs
Aufrichtigkeit, Puškins Europäismus, Turgenevs Solidarität mit den
kleinen Leuten, Gogol’s Moralismus… Angesichts des aktuellen Zynismus im
Kreml war mir selbst die Sowjetideologie sympathischer. Großrussischen
Nationalismus und gekränkte Großmachtattitüde kann ich hier niemandem
vermitteln und will es auch nicht. Russland steht für mich für andere
Werte. Diese Werte zu propagieren, das und nur das heißt für mich
Russland verstehen. Sind Sie da wirklich anderer Meinung?
Mit freundlichen Grüßen,
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