Am Samstag hüllte sich Italien in schwarzen Flor, und in der Kathedrale
von Ascoli Piceno saßen neben Staats- und Regierungschef die
Überlebenden und mit ihnen vor dem Fernseher die gesamte Nation, um nach
dem Beben auf dem Gebirgszug Apennin Abschied von den ersten der mehr
als 280 Opfer zu nehmen. Unter den Toten war auch ein 18 Monate altes
Baby, dessen Mutter 2009 das Erdbeben
in L’Aquila überlebt hatte. Da mag es so aussehen, als habe sich
Italien längst an Erdbeben gewöhnt und trauere sie so ab, wie man seine
Großeltern ins Grab gelegt.
Tatsächlich sorgt der Apennin, der sich von Nord nach Süd über den
Stiefel zieht, regelmäßig für Erdbeben. Die Geschichte der besonders
betroffenen Orte Amatrice, Accumoli sowie Pescara und Arquata del Tronto
zwischen dem Dreieck der Regionen Latium, Marken und Umbrien zählt
allein seit dem Mittelalter vier kräftige Beben. Trotzdem hat sich
Italien daran nicht gewöhnt. Es hat vielmehr zwei Gesichter: Nach jedem
Erdbeben strahlt das lebensfrohe menschliche Italien und betrauert die
Opfer nicht nur. Vielmehr geht mit diesem Teil der Gesellschaft ein Ruck
der Einheit durch die gesamte Nation. Wer irgend kann, will beim
Katastrophenschutz mitwirken, möchte mit Spaten und Händen Überlebende
bergen. Etwa 6000 Freiwillige sind es diesmal, und es gibt sogar die
Klage, es seien zu viele, während es an Fachkräften mangle. Aber das
Herz quillt über. Aus Rom bringen Frauen Küchen, auch um in den
Notzelten oder in der Turnhalle jene Pasta alla Amatriciana mit Speck
und Chilischoten zu kochen und zurückzugeben, die dieser Ort einst
Italien geschenkt hatte. Überall in der Nation wird Blut gespendet; eine
Telefongesellschaft sammelt Geld. Familien nehmen Opfer auf. Um zu
zeigen, dass sie dazu gehören wollen, bieten sich Mitglieder der
„Islamische Kulturgesellschaft in Italien“ oder der „Palästinenser in
Italien“ als Helfer an. „Wenn es darum geht, eine Katastrophe
provisorisch in den Griff zu bekommen, sind wir Italiener die besten der
Welt“, fasst Ministerpräsident Matteo Renzi diesen Teil Italiens zusammen.
Aber schon während die Totenmesse gelesen wird, zeigt sich auch der
andere Teil. Niemand weiß zwar, wie viele korrupte Lokalpolitiker,
Bauunternehmer und Bürokraten mit im Dom von Ascoli Piceno saßen, um
über die Toten für neue Pfründe zu beten. Aber dieses zweite Italien ist
immer dabei, und es hat bisher stets den längeren Atem gehabt. Es denkt
nur an sich. Wären die 2002 nach dem Erdbeben in der Molise
freigegebenen Gelder zur Erdbebenabsicherung genutzt worden, wären
womöglich jetzt weder die Schule noch das Krankenhaus von Amatrice
eingestürzt. Wäre 2009 die nach den Beben von L’Aquila freigegebene
Milliarde Euro zur Absicherung privater Häuser in den besonders
bedrohten Regionen der „Kategorie 1“ genutzt worden, hätten wohl viele
Dutzend Menschen jetzt überlebt. So war es immer: besonders schlimm 1968
nach den Beben im Belice-Tal auf Sizilien; weniger 2012 in Norditaliens
Emilia.
Da
wundert es nicht, dass sich kaum einer vorstellen kann, dass Renzi sein
Versprechen wahrmacht und „diesen Moment nationaler Gemeinsamkeit für
einen qualitativen Sprung nutzt, um Italien zu einem Land der
Prävention“ zu machen.
Dabei leben 24 der 60 Millionen Italiener in den
sieben von zehn Gebäuden, die nicht erdbebensicher sind. Renzis Projekt
„Casa Italia“ (Das Haus Italien) soll dieses Italien umbauen. Dabei
könnte er selber gegen die nur Opposition betreibende „Bewegung Fünf
Sterne“ zeigen, dass Politik nicht nur Korruption bedeutet; dass die
„alten Parteien“ nicht nur für Stillstand stehen. Renzi könnte die
Stimmung für sich gewinnen, die er braucht, um im November das
Referendum zur Abschaffung des totalen Bikameralismus’ zu gewinnen.
Dafür muss es ihm aber gelingen, endlich Herr der Korruption und einer
Bürokratie zu werden, die Verantwortung scheut und gemeinhin nur
verzögert; und das kann nur gelingen, wenn die Kooperation zwischen
Nation, Region und Kommunen nicht länger – wie bisher oft – am Streit
der Parteien scheitert.
Viele
sehen in der Expo 2015 ein gutes Beispiel, dass Italien auch effektiv
und ohne Mafiosi agieren kann. Dafür stand die Nationale
Antikorruptionsbehörde, die jetzt auch beim Wiederaufbau der
Erdbebengebiete stärker engagiert werden sollte. Denn in L’Aquila hatte
sich gezeigt, dass es Regierung und Katastrophenschutz allein nicht
gelang, der Korruption Einhalt zu gebieten.
Katastrophen
dieses Ausmaßes sind nicht nur nationale Ereignisse. So helfen jetzt im
Apennin europäische Organisationen. Auch beim Wiederaufbau dürfte die
EU gefragt sein, nicht nur, wenn es um die ständig umstrittene
Flexibilität der Budgets geht, sondern auch zur Schaffung transparenter
Finanzwege nach EU-Maßstab von Brüssel, über Rom zum Haus von Roberto in
Amatrice, der heute allein vor der Ruine trauert, in der er vor Tagen
noch mit seiner Frau lebte und zwei Enkel zu Besuch hatte, die er nun
beerdigen muss. Jörg Bremer
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