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Sonntag, 28. August 2016

Amatrice

Am Samstag hüllte sich Italien in schwarzen Flor, und in der Kathedrale von Ascoli Piceno saßen neben Staats- und Regierungschef die Überlebenden und mit ihnen vor dem Fernseher die gesamte Nation, um nach dem Beben auf dem Gebirgszug Apennin Abschied von den ersten der mehr als 280 Opfer zu nehmen. Unter den Toten war auch ein 18 Monate altes Baby, dessen Mutter 2009 das Erdbeben in L’Aquila überlebt hatte. Da mag es so aussehen, als habe sich Italien längst an Erdbeben gewöhnt und trauere sie so ab, wie man seine Großeltern ins Grab gelegt.

Tatsächlich sorgt der Apennin, der sich von Nord nach Süd über den Stiefel zieht, regelmäßig für Erdbeben. Die Geschichte der besonders betroffenen Orte Amatrice, Accumoli sowie Pescara und Arquata del Tronto zwischen dem Dreieck der Regionen Latium, Marken und Umbrien zählt allein seit dem Mittelalter vier kräftige Beben. Trotzdem hat sich Italien daran nicht gewöhnt. Es hat vielmehr zwei Gesichter: Nach jedem Erdbeben strahlt das lebensfrohe menschliche Italien und betrauert die Opfer nicht nur. Vielmehr geht mit diesem Teil der Gesellschaft ein Ruck der Einheit durch die gesamte Nation. Wer irgend kann, will beim Katastrophenschutz mitwirken, möchte mit Spaten und Händen Überlebende bergen. Etwa 6000 Freiwillige sind es diesmal, und es gibt sogar die Klage, es seien zu viele, während es an Fachkräften mangle. Aber das Herz quillt über. Aus Rom bringen Frauen Küchen, auch um in den Notzelten oder in der Turnhalle jene Pasta alla Amatriciana mit Speck und Chilischoten zu kochen und zurückzugeben, die dieser Ort einst Italien geschenkt hatte. Überall in der Nation wird Blut gespendet; eine Telefongesellschaft sammelt Geld. Familien nehmen Opfer auf. Um zu zeigen, dass sie dazu gehören wollen, bieten sich Mitglieder der „Islamische Kulturgesellschaft in Italien“ oder der „Palästinenser in Italien“ als Helfer an. „Wenn es darum geht, eine Katastrophe provisorisch in den Griff zu bekommen, sind wir Italiener die besten der Welt“, fasst Ministerpräsident Matteo Renzi diesen Teil Italiens zusammen.


Aber schon während die Totenmesse gelesen wird, zeigt sich auch der andere Teil. Niemand weiß zwar, wie viele korrupte Lokalpolitiker, Bauunternehmer und Bürokraten mit im Dom von Ascoli Piceno saßen, um über die Toten für neue Pfründe zu beten. Aber dieses zweite Italien ist immer dabei, und es hat bisher stets den längeren Atem gehabt. Es denkt nur an sich. Wären die 2002 nach dem Erdbeben in der Molise freigegebenen Gelder zur Erdbebenabsicherung genutzt worden, wären womöglich jetzt weder die Schule noch das Krankenhaus von Amatrice eingestürzt. Wäre 2009 die nach den Beben von L’Aquila freigegebene Milliarde Euro zur Absicherung privater Häuser in den besonders bedrohten Regionen der „Kategorie 1“ genutzt worden, hätten wohl viele Dutzend Menschen jetzt überlebt. So war es immer: besonders schlimm 1968 nach den Beben im Belice-Tal auf Sizilien; weniger 2012 in Norditaliens Emilia.
Da wundert es nicht, dass sich kaum einer vorstellen kann, dass Renzi sein Versprechen wahrmacht und „diesen Moment nationaler Gemeinsamkeit für einen qualitativen Sprung nutzt, um Italien zu einem Land der Prävention“ zu machen.

Dabei leben 24 der 60 Millionen Italiener in den sieben von zehn Gebäuden, die nicht erdbebensicher sind. Renzis Projekt „Casa Italia“ (Das Haus Italien) soll dieses Italien umbauen. Dabei könnte er selber gegen die nur Opposition betreibende „Bewegung Fünf Sterne“ zeigen, dass Politik nicht nur Korruption bedeutet; dass die „alten Parteien“ nicht nur für Stillstand stehen. Renzi könnte die Stimmung für sich gewinnen, die er braucht, um im November das Referendum zur Abschaffung des totalen Bikameralismus’ zu gewinnen. Dafür muss es ihm aber gelingen, endlich Herr der Korruption und einer Bürokratie zu werden, die Verantwortung scheut und gemeinhin nur verzögert; und das kann nur gelingen, wenn die Kooperation zwischen Nation, Region und Kommunen nicht länger – wie bisher oft – am Streit der Parteien scheitert.
 
Viele sehen in der Expo 2015 ein gutes Beispiel, dass Italien auch effektiv und ohne Mafiosi agieren kann. Dafür stand die Nationale Antikorruptionsbehörde, die jetzt auch beim Wiederaufbau der Erdbebengebiete stärker engagiert werden sollte. Denn in L’Aquila hatte sich gezeigt, dass es Regierung und Katastrophenschutz allein nicht gelang, der Korruption Einhalt zu gebieten.
Katastrophen dieses Ausmaßes sind nicht nur nationale Ereignisse. So helfen jetzt im Apennin europäische Organisationen. Auch beim Wiederaufbau dürfte die EU gefragt sein, nicht nur, wenn es um die ständig umstrittene Flexibilität der Budgets geht, sondern auch zur Schaffung transparenter Finanzwege nach EU-Maßstab von Brüssel, über Rom zum Haus von Roberto in Amatrice, der heute allein vor der Ruine trauert, in der er vor Tagen noch mit seiner Frau lebte und zwei Enkel zu Besuch hatte, die er nun beerdigen muss.  Jörg Bremer

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