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Freitag, 26. August 2016

Geschichte einer Hymne




Heute vor 175 Jahren, am 26. August 1841, verfaßte August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das „Lied der Deutschen“. Seitdem hat es unsere Geschichte in ihren Höhen und Tiefen begleitet – und es spiegelt auch die Ambivalenz der deutschen Nationalbewegung wider. Fast jede politische Bewegung der vergangenen 175 Jahre hat sich des Liedtextes und seiner Melodie bedient, teils vollständig, teils nur in Ausschnitten, teils durch Totschweigen.

Der 1798 geborene August Heinrich Hoffmann, der sich selbst nach seinem Geburtsort halb spöttisch Hoffmann von Fallersleben nannte, war 1841 bereits ein bekannter Lieddichter („Winter ade, scheiden tut weh“, „Alle Vögel sind schon da“, „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“). Als Literaturprofessor in Breslau war er Teil des politischen Vormärz und trat in seinen zeitgleich zum Deutschlandlied erschienenen „Unpolitischen Liedern“ für ein liberales und national geeintes Deutschland ein.
Hoffmann schrieb das Deutschlandlied am 26. August 1841 auf der damals britischen Insel Helgoland. Es wurde von Heinrich Julius Campe (der auch die Schriften Heines und anderer Vormärzdichter herausgab) verlegt und im Oktober desselben Jahres zu Ehren des badischen Staatsrechtsprofessors Karl Theodor Welcker in Hamburg vor Streit’s Hotel auf dem Jungfernsteig unter Fackelschein und Beteiligung einer großen Menschenmenge uraufgeführt.
 Monarchietreue Melodie, liberaler Text

Die Öffentlichkeit stand 1841 unter dem direkten Eindruck zweier politischer Ereignisse: einmal der sogenannten „Rheinkrise“ infolge der zwischen 1839 und 1841 erhobenen Forderungen der französischen Regierung Adolphe Thiers nach der Rheingrenze als östlicher Grenze Frankreichs, zum anderen dem Kampf gegen die 1840 im Königreich Hannover erlassene Verfassung, deren liberalerer Vorläufer 1833 aufgehoben worden war. Pressefreiheit, Verfassungsstaat und deutsche Einigung waren die Themen auf der Tagesordnung der politischen Diskussionen.
Besonders die Rheinkrise fand in einigen politischen Liedern der Zeit Beachtung, wie etwa in Max Schneckenburgers „Wacht am Rhein“ oder Nikolaus Beckers Gedicht „Der deutsche Rhein“. Politische Lieder waren Mitte des 19. Jahrhunderts gängige Mittel der politischen Auseinandersetzung, und so reiht sich das Deutschlandlied in die Reihe solcher Lieder und Gedichte der Zeit ein.
Textlich war es eine Hymne der national-liberal-konstitutionellen Bewegung, durch seine Verbindung mit der Melodie von Joseph Haydns Kaiserquartett gewann es jedoch den Charakter einer auch königsfreundlichen Hymne: Haydns Melodie hatte bereits 1797 mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“ eine Verwendung als patriotisches Lied im Gefolge der Revolutionskriege gegen Frankreich gefunden. Das Kaiserquartett hatte damals – quasi als Anti-Marseillaise – die Bindung der österreichischen Untertanen an ihren Kaiser Franz vor dem Hintergrund der heranrückenden napoleonischen Armeen stärken sollen. Die Zeitgenossen verbanden mit der Melodie also eine dezidiert antifranzösisch-habsburgfreundliche Prägung.
Die Ambivalenz des Deutschlandlieds
In Hambach 1832 wurde noch die republikanische Marseillaise gesungen, 1841 setzte Hoffmann im Gefolge der Rheinkrise jedoch eine antifranzösische Note und stellte sein Deutschlandlied in die Tradition des alten Reiches vor 1806 und den damaligen Abwehrkampf gegen Frankreich. Die Kombination der liberalen Dichtung mit der dezidiert kaiserlichen Melodie Haydns war ein kluger Schachzug, um Kleinstaaterei und innere politische Zerrissenheit der Richtungen innerhalb der Nationalbewegung zu überwinden. Der Gegensatz zwischen monarchietreuer Melodie und liberalem Text prägte also bereits die Entstehung des Deutschlandliedes.
Ganze 15 Mal kommt das Wort „deutsch“ und „Deutschland“ vor: als Bezeichnung der Herkunft (Strophe 2: „Deutsche Frauen, deutsche Treue“), als – den damaligen Gegebenheiten entsprechende – räumliche Einordnung (Strophe 1: „Von der Maas bis an die Memel“) sowie als Ziel und Bekräftigung eines politischen Programms (Strophe 3: „Einigkeit und Recht und Freiheit“) mit der direkten Aufforderung zur Teilnahme: „Danach laßt uns alle streben“.
Das Lied der Deutschen trägt alle Gegensätze des Vormärz in sich und versucht diese durch den Appell „über alles“ im größeren Ganzen aufzuheben: Einerseits die Forderung nach dem liberal-aufgeklärten Verfassungsstaat, andererseits die romantische Rückbesinnung auf historisch Überkommenes und organisch Gewachsenes; hier Volksrepräsentation und Staatsvertrag, dort Kaiser und Reich, hier christlich-germanische Ursprünge, dort Rationalismus und Vernunftreligion. Das Deutschlandlied enthält ambivalente Aussagen und bildet als Ganzes eine Synthese, einen festlichen „Ausdruck unserer vaterländischen Gefühle“, wie Friedrich Ebert später schreiben sollte.
Keine große Bedeutung für die „48er“
In der 1848er Bewegung kam das Lied wenig zum Zuge, zumal es durch die getragene Melodie nur wenig kämpferisch und revolutionär war. Nach 1849 hingegen standen andere Lieder im Mittelpunkt der offiziellen Politik, und die preußische Königshymne „Heil dir im Siegerkranz“ (mit derselben Melodie wie "God save the Queen") wurde 1871 zur Hymne des Bismarckreiches. Erst nach Bismarcks Abgang trat das Deutschlandlied wieder mehr in den Vordergrund und erhielt – dem Geist der Zeit entsprechend – eine andere Gewichtung, indem es aus seinem historischen Entstehungskontext heraustrat: 1890 wurde es bei der Übergabe Helgolands gegen Sansibar gesungen, und so fand das „Deutschland über alles“ zum ersten Mal seinen Platz im Rahmen nationalistischer Expansion und Verklärung.
1901 wurde es bei der Einweihung des Bismarckdenkmals vor dem Reichstag intoniert und 1906 bereits im Brockhaus als Nationalhymne genannt. 1914 am Vorabend des Ersten Weltkriegs war es eines der populärsten politischen Lieder und erhielt im Krieg am 11. November 1914 durch einen nüchternen Heeresbericht seinen Platz im Topos nationalistischer Verklärung: 
„Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie.“
Lag zuvor der Schwerpunkt des Liedes auf dem nationalliberalen Programm des Vormärz, so trat durch die Betonung der ersten Strophe bis 1914 und die Verbindung mit dem Gedanken des Opfers für das Vaterland eine eher national-expansionistische Ausrichtung hinzu, die sich sehr gut mit dem romantischen Grundmotiv des Liedes kombinieren ließ.
Hymnenlos in die Republik

Nach dem Thronverzicht des Kaisers und der Revolution von 1918/19 war das Reich quasi hymnenlos geworden: Mit „Heil dir im Siegerkranz“ konnte man einem sozialdemokratischen Reichspräsidenten nur schlecht huldigen. Bereits am 12. Mai 1919 brachte daher der Präsident der Nationalversammlung, der Zentrumspolitiker Constantin Fehrenbach, das Deutschlandlied in die Diskussion, wobei er sich über dessen chauvinistischen Gebrauch im Gefolge der 1890er Jahre (u.a. durch die einseitige Betonung des „Über alles“ durch den Alldeutschen Verband) durchaus bewußt war. Jedoch fehlte 1919 noch der klare Anlaß, die Hymnenfrage zu klären, und Fehrenbach sah dies auch nicht als Aufgabe des Parlamentspräsidenten. Er setzte das Wort vom „vaterländischen Hymnus“ an das Ende der Debatte über die Friedensbedingungen der Entente-Mächte in der Nationalversammlung, die mit den Worten „Deutschland, Deutschland über alles“ schloß.
Im Frühsommer 1920 wurde in Berlin das Fehlen einer Nationalhymne schmerzlich bewußt, als das britische Außenministerium unter Lord Curzon um ein Exemplar der deutschen Nationalhymne für die Liste der britischen Flotte bat. Man konnte dieser Bitte nicht nachkommen. Auch die Reichswehr hatte angefragt, welche Hymne man bei offiziellen Anlässen zu spielen habe. Damit kam die Frage auf die Tagesordnung, wer die Hymne festlegen solle und welche Lieder in Betracht kamen.
Das Reichsjustizministerium teilte Fehrenbach (der mittlerweile Reichskanzler war) mit, daß der Reichspräsident Armee und Marine anweisen solle, das Deutschlandlied als Nationalhymne spielen zu lassen. Auch die Reichskanzlei lehnte die Schaffung einer gänzlich neuen Hymne ab, zumal man die Gefahr sah, dass das populäre Deutschlandlied zum rechten Kampflied degeneriere, während ein neues Lied erst um Akzeptanz zu ringen habe. Aufgrund diplomatischer Entwicklungen und weiterer politischer Diskussionen (v.a. innerhalb der SPD) dauerte es jedoch weitere zwei Jahre, ehe es zur Proklamation des Deutschlandliedes zur Nationalhymne kam.
Nationalhymne der Weimarer Republik
Nach der Ermordung Walther Rathenaus im Juli 1922 nutzte man auf Vorschlag des Innenministers Adolf Köster den anstehenden dritten Verfassungstag dazu, dem Reichspräsidenten Ebert die Proklamation des Deutschlandliedes zur Nationalhymne vorzuschlagen. So erhielt das britische Außenministerium (ebenso wie das spanische, das mittlerweile ebenfalls angefragt hatte) die ersehnte Antwort, wobei die dritte Strophe des Liedes als Gesangstext besonders hervorgehoben wurde. In einem Aufruf in allen großen deutschen Tageszeitungen wurde betont: „Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck […] Sein Lied […] soll nicht Mißbrauch finden im Parteikampf, es soll nicht der Kampfgesang derer werden, gegen die es gerichtet war; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung.“
Ebert erneuerte durch die Betonung der dritten Strophe die republikanische Deutung des Liedes und schrieb sie für Staatsanlässe fest. Gleichzeitig legte er durch die Abwertung der anderen Strophen den Grundstein für die bis heute geltende Amputation des Liedes, dem sein romantisch-traditioneller und nationaler Aspekt genommen wurde. Obwohl schon in der Weimarer Republik bevorzugt die erste Strophe gesungen wurde, war damit jedoch der ganzheitliche Aspekt des Liedes und damit der Gesamtblick auf das Programm der deutschen Nationalbewegung dahin.
1933 schlug das Pendel zurück und die dritte Strophe wurde mit anderen Symbolen der Weimarer Republik und der 1848er Tradition entsorgt. Die erste Strophe stand fortan in der einseitigen Traditionslinie von 1890 und 1914 und wurde in Kombination mit dem Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“) – dem Lied aus der „Kampfzeit“ der Nationalsozialisten gegen die Republik – völkisch-national interpretiert.
Lied ohne Worte
Es wundert nicht, daß die Alliierten das Singen und Spielen 1945 vor diesem Hintergrund verboten. Bereits im September 1949 stand das Deutschlandlied als Hymne jedoch im Bundestag wieder auf der Agenda einer interfraktionellen Gruppe von Abgeordneten, und auch Bundeskanzler Adenauer wollte eine Rückkehr zur dritten Strophe des Deutschlandliedes als Ausdruck, „daß wir ein einiges Volk, ein freies und ein friedliches Volk sein wollen“, wie er 1950 anläßlich einer Rede zu Deutschlands Rolle in Europa meinte. Obwohl Bundespräsident Theodor Heuss zwischen 1950 und 1952 eine alternative Hymne in die Diskussion einbrachte, setzte sich das Deutschlandlied erneut durch.
Ein Briefwechsel zwischen Kanzler und Präsident mußte am 6. Mai 1952 genügen, um das Lied der Deutschen wieder zur Nationalhymne zu erheben, mit ausdrücklichem Hinweis, daß bei staatlichen Veranstaltungen nur die dritte Strophe gesungen werden solle. Damit war zwar das ganze Lied der Deutschen zur Nationalhymne erhoben, jedoch unter Betonung der durch Ebert in den Vordergrund gestellten dritten Strophe. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der kommunistischen Diktatur in der Ostzone ein verständlicher politischer Akt.
In der Zeit bis 1989 wurde jedoch – vor allem durch den gewohnheitlichen Gebrauch in den Medien – aus dem ganzen Deutschlandlied eher ein selten gespieltes Lied ohne Worte, von dem manche glaubten oder glauben machen wollten, daß die ersten Strophen gar verboten seien. Wegen des Festhaltens am ganzen Lied als Ausdruck der Innigkeit und Sehnsucht nach Einheit, nach Tradition, nach Besinnung auf das ganze deutsche Volk und seine Geschichte, nach Recht und Freiheit wurden die Burschenschaften in jener Zeit oft gerügt, verspottet und gescholten. 1986 kam es im baden-württembergischen Landtag anläßlich eines Schulerlasses zum Eklat, als Kultusminister Meyer-Vorfelder (CDU) auf die Zwischenrufe der Grünen reagieren mußte, daß das Deutschlandlied ein „nationalistisches Sauflied“ sei. Noch Anfang 1989 kam es in Hessen zu einem von SPD und Grünen hervorgerufenen Streit, weil Kultusminister Christean Wagner (CDU) das ganze Deutschlandlied an Schulen lernen lassen wollte.
Hymne der Wende
Erst mit dem 9. November 1989 begann eine Renaissance des Liedes der Deutschen, als sich die Abgeordneten im Deutschen Bundestag erhoben und das Lied von Einigkeit und Recht und Freiheit sangen, nachdem die Öffnung der innerdeutschen Grenze bekanntgeworden war. In Erinnerung sind dagegen auch die unwürdigen Pfiffe und Rufe aus der Menge, als die dritte Strophe am Folgetag unter Beisein von Willy Brandt und Helmut Kohl vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin intoniert wurde. Am Abend der Einheitsfeier am 3. Oktober 1990 verband das Singen der Nationalhymne dieses Lied mit dem Prozeß der Wiedervereinigung.
Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker traten im August 1991 dann in die Tradition Eberts und Adenauers, als sie die dritte Strophe als Nationalhymne für Deutschland erneuerten.
Daß das Lied der Deutschen als Ganzes in Abgrenzung zum revolutionären Frankreich der Jahre nach 1789 auch eine Synthese sein wollte, um politische und kulturelle Gegensätze in seinen drei Strophen als Ganzheit aufzuheben, wird heute oft übersehen: Es vereint den historisch-kulturell geprägten Vaterlandsbegriff in den Sprachgrenzen von 1841 mit der romantisch-traditionellen Sicht auf das organisch Gewachsene, die programmatische Forderung nach Verfassungsstaat, politischer Einheit und bürgerlicher Freiheit mit dem Gedanken der monarchischen Einheit des Alten Reiches. Damit stiftet das Lied der Deutschen bis heute eine wichtige Identifikationsgrundlage.  Leopold Kaiser


Alle Hymnen sind ambivalent, denn das Beste in uns und das Schlechteste in uns liegen immer dicht beieinander, insofern das Schlechte des Guten Schutz ist. Daher sind alle Religionen mehr oder weniger ambivalent, wenngleich von Epoche zu Epoche mal die eine, mal die andere Seite überwiegt. Hymnen und Märsche sind daher die heikelsten und interessantesten Klänge. Es sind die Musikerlebnisse, die in uns die heftigsten Gefühle wecken, die sogar an physischen Schmerz grenzen können.

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