Die First Lady hat ihren
Auftritt am Ende der Zeremonie, die sich über Stunden hinzieht.
Filifilia schlüpft aus ihren Schuhen. Mit kleinen Schritten geht sie zur
Grünfläche vor den Tribünen und streckt die Arme aus. Sie schließt die
Augen, lächelt und beginnt, zu der Musik zu tanzen, die blechern aus den
Lautsprechern scheppert.
So
anmutig sieht das aus, dass die Menschen, die Riten wie diese kennen,
klatschen, jubeln und schließlich mittanzen. Samoa feiert seinen
Unabhängigkeitstag. Zum 52. Mal wird an diesem Tag im Juni dem Ende der
Kolonialzeit gedacht. Dem Abzug der Neuseeländer, der Deutschen – aller
Weißen.
Wer auf den
Ehrenrängen vor dem Parlament in der Hauptstadt Apia keinen Platz
bekommen hat, feiert auf der Straße – friedlich und fröhlich. "He,
Palangi, was starrst du nach oben, suchst du den Himmel?", necken sie
einen Weißen. "Schau dich doch um, der Himmel ist hier unten bei uns."
Stimmt, denkt der Palangi. Wenn es irgendwo ein Paradies gibt, dann muss
es auf einer dieser Inseln hier in der Südsee sein. Doch das täuscht.
Zehn
grüne Tupfer inmitten der unendlichen Weite des Südpazifiks, das ist
"Malo Sa'oloto Tuto'atasi o Sāmoa", der unabhängige Staat Samoa. Von
dort betrachtet, ist der Rest der Welt endlos weit weg. Die erste
größere Landmasse, Neuseeland, liegt knapp 2900 Kilometer entfernt, der
nächste Nachbar Tonga 900 Kilometer.
Als
der Entdecker Louis-Antoine de Bougainville um 1770 auf den ersten
Inseln der Südsee landete, schrieb er, "das wahre Utopien, den Garten
Eden" entdeckt zu haben. Und als wenig später der englische Seefahrer
James Cook die entlegenen Eilande erreichte, gingen viele seiner
Matrosen vor der Abfahrt über Bord, weil sie lieber auf einer der Inseln
bleiben wollten, als nach England zurückzusegeln.
Auch die Deutschen, die ersten Kolonialherren Samoas, verließen die Insel nur ungern. Drei Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden
sie von den Neuseeländern vertrieben. Hundert Jahre ist das jetzt her.
Dennoch sind viele Deutsche geblieben, wie ein Blick ins Telefonbuch
Samoas zeigt. Hertels stehen da drin, Kaysers oder Schreckenbergs. Auch
sonst ist das deutsche Erbe noch spürbar. Das gereichte den Samoanern
lange zum Vorteil – erweist sich aber heute als Hindernis auf dem Weg zu
mehr Wohlstand.
Der
Südseestaat hat seit Jahrhunderten keine Kriege mehr geführt, er kennt
keine Staatskrisen oder ethnischen Konflikte und so gut wie keine Fälle
schwerer Kriminalität. Vor fünf Jahren gab es einen Banküberfall, den
ersten überhaupt. Davon sprechen sie in den Dörfern noch heute. Der
Täter wurde gefasst. Wohin hätte er auch fliehen sollen? In American
Samoa, dem Teil der Inselgruppe, der zu den USA gehört, tragen die
Polizisten Colts. "Wir sind unbewaffnet, unsere Pistolen lagern in
Magazinen", sagt ein samoanischer Ordnungshüter.
Es
gibt keine Kälteeinbrüche auf Samoa und keine Hitzewellen, keine
Tropenkrankheiten und keine gefährlichen Tiere. Die
Durchschnittstemperatur liegt bei 27 Grad, und es fällt regelmäßig so
viel Regen, dass ein paar Samen, Körner oder ein eingegrabener Strunk
einer Ananas reichen, um es aus den schweren, fruchtbaren Böden üppig
sprießen zu lassen. Dichte Wälder und saftig-grüne Höhenzüge grenzen an
puderzuckerfeine Strände. Dazwischen liegen wie kleine bunte Sprenkel
herausgeputzte, blumengeschmückte Dörfer. Man könnte meinen, vor den
Kulissen eines süßlichen Südsee-Streifens zu stehen. Das ist die eine
Seite.
Die
andere sind die nüchternen Statistiken. Die Vereinten Nationen zählen
den Inselstaat zu den "Least Developed Countries", den am wenigsten
entwickelten Ländern. Und die Dynamik ist gering. "Das Wachstum der
samoanischen Wirtschaft war in den vergangenen fünf Jahren schwach und
unbeständig, ein Ergebnis einer Serie von empfindlichen Rückschlägen",
steht im jüngsten Länderbericht des Internationalen Währungsfonds.
Zwei
Drittel der Menschen arbeiten in der Landwirtschaft, aber die trägt nur
fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Regelmäßig ziehen schwere
Stürme über das Inselreich und verwüsten vor allem die Südküsten. 2012
hatte Samoa 6,42 Sturmtote pro 100.000 Einwohner zu beklagen, mehr als
jedes andere Land der Welt. Und 2012 war kein Ausnahmejahr für den
Inselstaat.
Der
Währungsfonds hat akribisch erfasst, dass auf Samoa seit 2008 sowohl die
Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte als auch die anderer Waren
deutlich gesunken ist. Die Staatsschulden steigen dagegen rasch an, und
das Handelsbilanzdefizit ist riesig, weil das Gros der Waren für den
täglichen Bereich eingeführt werden muss. Die Inflation lag laut IWF
2012 bei durchschnittlich 6,5 Prozent, und die Arbeitslosenquote, würde
man sie nach Maßstäben eines Industrielandes erfassen, läge wohl bei 60
bis 70 Prozent.
Nach den
Maßstäben westlicher Länder ist Samoa ein Armenhaus – nur kann man
dieses Inselreich danach nicht messen. Das eigentlich exotische dieser
Inselwelt sind nicht etwa seine Palmen und Strände, sondern der
Lebensstil seiner Bewohner, die "Fa'a Samoa". Und die misst Bargeld
vergleichsweise wenig Bedeutung bei.
In
der Dämmerung geht es die Küstenstraße entlang in einen der Vororte
Apias. Das Staatsoberhaupt, Tupuola Taisi Tufuga Efi, und seine
tanzfreudige Gattin Filifilia haben zum Dinner geladen. Der Fahrtwind
weht den Duft von feuchten Pflanzen, von Erde und fremden Aromen ins
Auto. An den Straßenrändern trotten schwarz-weiß gefleckte Bachen mit
ihren Ferkeln entlang. Nirgendwo auf der Insel liegt Müll, überall wird
gefegt und gerecht. Die Rasenstücke sind akkurat gestutzt.
Noch
immer wohnen viele Samoaner in den traditionellen Fale, windgekühlten
Holzhäusern ohne Wände. Sie bestehen nur aus gemauerten Sockeln und
verzierten Säulen, die schlichte Dächer tragen. Man führt darin ein
Leben auf dem Präsentierteller. "Intimität oder Rückzugsorte gibt es in
dieser Gesellschaft nicht. Ich weiß gar nicht, wie hier die Kinder
entstehen", wundert sich ein Europäer, der schon lange auf der Insel
lebt. Zumal sich das Inselreich als konservativ-christlich und überaus
prüde gibt.
Die Stimme
zu erheben ist verpönt. Wer es tut, verstößt gegen die "Fa'a Samoa", er
verliert sein Gesicht. Kein ungutes Wort in der Öffentlichkeit, keine
Hektik. Auch nicht am Telefon. 100.000 Handys soll es auf den Inseln
geben, bei einer Gesamtbevölkerung von 185.000.
Tufuga
Efi und Filifilia empfangen in ihrem Privathaus, einem stattlichen,
fast hundert Jahre alten Holzgebäude mit Veranda. In der Empfangshalle
stehen Bücher in den Regalen, auf dem Lesebord liegt eine Familienbibel.
Daneben samoanische Kunst und Insignien der Macht, ein Kopfschmuck.
Präsident oder König wären falsche Titel für den ersten Mann im Staat.
Oberster Häuptling trifft es besser. Obwohl das für einen weit gereisten
Politiker wie Tufuga Efi archaisch klingt.
Dass
sich ein Deutscher auf den Inseln aufhält, hat Tufuga Efi neugierig
gemacht, er will den Palangi sehen. Er kennt und schätzt Deutschland,
wie viele Samoaner. Erst zu Jahresbeginn war der Oberhäuptling mit
schwedischen Vorfahren in Berlin mit Präsident Joachim Gauck
zusammengetroffen. Die einzige unangenehme Überraschung dort war das
frostige Wetter.
Ihre
Hoheit ließ noch vom Flughafen aus das KaDeWe ansteuern, um sich einen
wärmenden Hut zu kaufen. "Es war ein Glück, dass zu Kolonialzeiten die
Deutschen auf Samoa waren. Die haben ihre besten Leute zu uns geschickt.
Das hätten die Briten nie getan", sagt er in seiner Residenz in Apia.
Während des Smalltalks werden Wein und Kokosmilch gereicht, die
Bediensteten knien mit einem Bein am Boden, wenn sie nachschenken.
Andere
Palangi werden von den Samoanern weniger wohlwollend betrachtet. Die
US-Amerikaner zum Beispiel. 2011 wechselte der Inselstaat die
Datumsgrenze, ist also nicht mehr der Staat, in dem die Sonne zuletzt
untergeht, sondern der, über dem sie laut internationaler Konvention als
erstes aufgeht. Man wolle an die Nachbarn Neuseeland und Australien
heranrücken, begründete die Regierung in Apia den Schritt. Aber man
rückt eben auch ein Stück weg von den USA. Dass American Samoa nun auf
der anderen Seiten der Datumsgrenze liegt, kümmert die West-Samoaner
nicht.
Tufuga Efi war
zweimal Premierminister, bevor er Staatsoberhaupt wurde. Er kennt das
politische Tagesgeschäft, hat aber keine große Lust, darüber zu reden.
Lieber diskutiert der Katholik über den von ihm bewunderten ehemaligen
Papst Benedikt. Als es um die Probleme Samoas geht, wird er einsilbiger.
"Nun,
alles muss weite Wege zurücklegen, bevor es uns erreicht. Und dann
gehen viele von hier weg", sagt er. Wegen der Armut? "Armut?", fragt
Tufuga Efi leicht belustigt. "Ich erzähle Ihnen dazu mal was. Als es
erneut um internationale Hilfe für uns ging, platzte es aus dem
Staatschef von Fidschi heraus: "Warum schon wieder Geld für Samoa? Ich
habe da noch nie einen schlanken Menschen gesehen."
Dick
sein bedeutet reich sein in diesem Teil der Welt. Und es gibt dort so
viele beleibte Menschen, dass Samoa Air 2013 begonnen hat, die Preise
der Flugtickets auch nach dem Gewicht der Fluggäste zu berechnen.
Offiziell als arm zu gelten sei doch kein Fehler, meint einer der
Spitzenbeamten Tufuga Efis. "Das machte es leichter, internationale
Hilfe zu bekommen", erklärt er. Und überhaupt: Es geht dem Inselreich
doch leidlich gut. Die First Lady ist da kritischer. "Wenn ich zum
Himmel hochblicke und all die Flugzeuge sehe, denke ich manchmal: Und
alle fliegen über uns hinweg", sagt Filifilia.
Kaum
ein Staat ist aufgrund seiner Lage isolierter als Samoa. Er liegt im
Herzen der Südsee-Inselwelt, und gerade einmal zwei Passagierschiffe
laufen pro Woche den Hafen Apia an. Und vom internationalen Flughafen
gehen wöchentlich im Schnitt 14 Direktflüge in die ganze Welt. Nach
Neuseeland und Australien, Fidschi und Hawaii. Der Direktflug von Los
Angeles wurde vor einiger Zeit gestrichen. "Wir befinden uns mitten im
Nichts", sagt Hans-Joachim Keil, der Chef des größten Fernsehsenders von
Samoa, TV3, und deutet mit weiter Geste aus dem Fenster seines Büros in
Apia. "Wie will man da eine florierende Wirtschaft aufbauen?"
Keils
Büro sieht wüst aus. Nach Hektik und Arbeitswut, also so gar nicht nach
"Fa'a Samoa". Das liegt vielleicht an Keils deutschem Blut. Der Mann
ist wie so viele führende Männer Samoas ein "Afftassi", was übersetzt
"Hälfte vom Ganzen" heißt. Anders ausgedrückt: Er ist ein Mischling.
Kaum ist der Besucher durch die Tür, zieht Keil ein altes, gerahmtes
Porträt hervor. Es zeigt einen preußischen Totenkopfhusaren in schwarzer
Uniform, Hans-Joachim Keils gleichnamigen Großvater.
Der
kam 1903 als Pflanzer auf die Insel. Er verliebte sich in eine
Einheimische und gründete mit ihr eine Familie. Ein echter Samoaner kann
ein "Afftassi" nie werden. Aber das ist dort nicht wichtig. Die
Einheimischen nehmen den feinen Unterschied zur Kenntnis und lassen es
damit bewenden.
Der
Enkel des Husaren hat es weit gebracht. Hans-Joachim Keil war zeitweilig
Wirtschafts-, Handels- und Tourismusminister Samoas, er kennt sich noch
heute sehr gut in den Kassen des Inselstaates aus. "Wir sind völlig von
Einfuhren abhängig", sagt er. "Wir haben sicher zwanzigmal so viel
Importe wie Exporte." Der unabhängige Staat Samoa ist nahezu bei allen
Gütern, die zu einem modernen Leben zählen, auf Einfuhren angewiesen.
"Wir bezahlen das aus Steuermitteln, den Einnahmen aus dem Tourismus und
vor allem mit dem Geld, was die Samoaner im Ausland in die Heimat
schicken", erklärt Keil.
Es
leben inzwischen weit mehr Samoaner außer Landes als auf den Inseln,
die meisten zieht es nach Neuseeland. Auch in Australien oder den USA
gibt es größere Kolonien. Die Menschen gehen, weil es in ihrem
Südseeparadies kaum Jobs gibt. Ohne diese Auswanderer, die noch in der
zweiten und dritten Generation Geld nach Hause überweisen, wäre Samoa
nicht überlebensfähig.
Selbst
diese Finanzspritzen würden jedoch nicht ausreichen, um den Südseestaat
am Leben zu halten. "Wir bekommen Geld und Kredite von anderen Staaten
und internationalen Organisationen", sagt Keil. Hauptgeldgeber ist
Neuseeland, das sich als letzte Kolonialmacht weiterhin in der Pflicht
sieht. Daneben geben Australien, Japan und die EU Geld, ein wenig auch
die USA. "Und es kommt immer mehr aus China", sagt Keil. Allerdings
selten Bargeld, die Chinesen bauen lieber Krankenhäuser, Schulen,
Regierungsgebäude oder Sportkomplexe.
Der
protzige Gerichtshof etwa, der sich wie ein gigantisches, gerade
gelandetes Raumschiff neben dem baufälligen Parlamentsgebäude
ausbreitet, ist ein Geschenk Pekings. "Wenn die Chinesen aktiv werden,
bringen sie alles mit: Pläne, Baumaterialien, die Arbeiter und alles,
was für deren Versorgung nötig ist, bis hin zu Paketen mit Reis", sagt
ein Diplomat in Apia. Die Hilfsoffensiven Pekings sind den Weißen auf
den Inseln ebenso unheimlich wie den Samoanern. Doch wer will schon
nachhaken – bei so viel Großzügigkeit.
Natürlich
fordert die Volksrepublik eine Gegenleistung für die Hilfestellung, die
in Afrika, Asien und Ozeanien nach dem gleichen Muster abläuft. China
zahlt oder baut und bekommt im Gegenzug den Zugriff auf Bodenschätze.
Auf Samoa geht die Rechnung nicht auf, denn in der Erde der Inseln
schlummert absolut nichts, was man abbauen könnte. "In unserem Fall geht
es Peking um die Stimme Samoas in der Vollversammlung der Vereinten
Nationen", sagt ein hochrangiger samoanischer Politiker.
Dort
haben nämlich Länder wie China oder die USA auch nur eine Stimme, wie
das kleine Samoa. Auf diese Art geht Peking schon lange und recht
erfolgreich auf Stimmenfang bei den Kleinststaaten in Ozeanien. Und die
Volksrepublik braucht viele Stimmen, um ihre Interessen bei der UNO
durchzusetzen.
Manchmal
aber geht es den Chinesen auch nur um lokalen Einfluss. Die Eltern von
Schülern einer Grundschule in Apia wurden jüngst davon überrascht, dass
die Volksrepublik 1,8 Millionen Tala, rund 600.000 Euro, für ein neues
Gebäude spendierte. Baubeginn soll bereits im Dezember sein. Einzige
Nebenwirkung: Die Kinder dort müssen künftig auch Mandarin als
Fremdsprache lernen. Das ist nicht allen Eltern recht. Aber der Neubau
ist dringend nötig.
Versuche,
aus der Umklammerung der Weißen und Chinesen zu entkommen, gibt es seit
einigen Jahren, aber sie fruchten bislang nicht. "Wir haben darüber
nachgedacht, als einen Schwerpunkt die Industrialisierung zu fördern,
aber das ist sinnlos", sagt Misa Telefoni H.T. Retzlaff. "Standorte wie
die Philippinen oder Thailand sind da viel weiter, sie sind näher an den
Märkten und können billiger produzieren als wir."
Bislang exportiert Samoa
fast ausschließlich landwirtschaftliche Produkte, Fisch, Säfte,
Arzneipflanzen, Kokosnussöl oder die stärkehaltigen Knollen namens Taro.
Sonst existiert nichts, was Geld bringen könnte. Retzlaff hat sich
ausführlich mit der Wettbewerbsfähigkeit des Staates beschäftigt, er war
lange Finanzminister Samoas und hat einiges versucht, die
Steuereinnahmen des Inselreiches zu mehren.
Um
auf Samoa produzieren zu können, müssten die Grundstoffe erst Tausende
von Kilometern herangeschafft, weiterverarbeitet und wieder ausgeführt
werden. Schon aufgrund der Transportwege rechnet sich das nicht. Und
dann sind die Eilande nicht einmal für südpazifische Verhältnisse ein
Billigstandort. Der Mindestlohn liegt bei 2,50 Tala pro Stunde. Das ist
zwar nicht einmal ein Euro, aber wer einen Job hat, verdient in aller
Regel mehr und kann damit auf den Inseln ganz auskömmlich leben.
Der
größte industrielle Arbeitgeber ist der japanische Autozulieferer
Yazaki. Bis zu 3000 Menschen fanden dort zu Hochzeiten Arbeit. Aber
spätestens nachdem Anfang des Jahres nach General Motors (GM) und Ford
auch Toyota
bekannt gegeben hatte, die Produktion in Australien komplett
einzustellen, war klar, dass Yazaki sein Werk auf Samoa schließt. Das
wollten die Japaner schon lange. "Wir sind heilfroh, dass Schluss ist.
Die Fabrik hat sich seit Jahren nicht gerechnet", heißt es aus dem
Umfeld des Unternehmens. Der Standort sei eine Art verbrämte
Entwicklungshilfe gewesen.
Exminister
Retzlaff, dessen T. H. im Namen für Hermann Theodor steht, hatte das
kommen sehen. Er hat immer wieder Zukunftsszenarien entworfen, und dabei
ist er mindestens so erfinderisch wie sein Großvater aus Stettin. Der
war 1906 auf den Inseln gelandet und hatte im Auftrag der
Reichsregierung damit begonnen, die ersten Fernsprechverbindungen
aufzubauen – was ihm und seinen Nachkommen den Ehrennamen "Telefoni"
einbrachte.
"Vor etwa
fünf Jahren haben wir davon geträumt, das Genf des Pazifiks zu werden",
erzählt Enkel Misa Retzlaff. Ein kleiner, pazifischer Finanzstandort mit
Börse sollte Samoa werden. Auf Fidschi gibt es immerhin inzwischen auch
einen Handelsplatz. "Aber bei uns wollten nicht mal die großen
Unternehmen, die Chinesen oder Brauer gelistet werden", seufzt Retzlaff.
"Im Grunde bleibt uns nur der Tourismus."
Doch
diese Idee gefällt vielen Matai nicht, den einflussreichen Dorf- und
Familienhäuptlingen. Sie fürchten, dass laute, respektlose Fremdlinge
die "Fa'a Samoa" und damit die Gesellschaftsordnung auf den Kopf stellen
könnten.
Von Tourismus hält auch
Charlie Westerlund nichts. Westerlund, ein Mann mit dänischen
Vorfahren, hat nichts gegen gute Geschäfte, im Gegenteil, er ist selbst
einer der einflussreichsten Unternehmer auf Samoa. Westerlund steht vor
seiner nagelneuen Fabrik am Rande Apias, hält eine grünliche Flasche in
der Hand und erklärt: "Ich mag Bier." Vor ein paar Jahren saß er mit
Geschäftspartnern zusammen und stellte fest, dass die bekannte, auf
deutsche Wurzeln zurückreichende Marke Samoas in Grunde ungenießbar sei.
Kurz
darauf war er in Deutschland und traf einige Brauereichefs. Der Plan
war klar: Er würde auf Samoa sein eigenes Bier brauen. "Warum sollten
wir auf Tourismus setzen, wir haben nichts, dass es auf den anderen
Inseln nicht auch gibt. Wir sind zu weit entfernt von anderen Ländern,
die Fernreisende anziehen", sagt er.
Westerlund
investierte vor eineinhalb Jahren umgerechnet 20 Millionen Euro, ließ
eine Fabrik hochziehen, heuerte ein Team an und produziert nun eigenes
Lagerbier, Taula und Sama heißen die Marken. Eine Kapazität von 100.000
Hektolitern hat die Brauerei, 24.000 Hektoliter werden tatsächlich
hergestellt.
Dass die
Produktion jedweder Art eine Herausforderung auf Samoa ist, weiß
Westerlund. Die Rohstoffe für sein Bier und seine Erfrischungsgetränke
muss er einführen. "Fachkräfte sind hier ebenfalls rar", sagt er. Sein
Braumeister ist Samoaner, wurde aber in München geschult. "Leute mit
technischen Funktionen hole ich von außerhalb."
Eines
der größten Probleme ist der Binnenmarkt. Die Brauerei aus deutschen
Zeiten mit der Traditionsmarke Vailima stellt schon weitaus mehr her,
als sämtliche Samoaner trinken können. Westerlund müsste einen
beinharten Verdrängungswettbewerb beginnen – doch er geht einen anderen
Weg. "Wir exportieren unser Bier, die ersten Container nach Neuseeland
sind schon unterwegs", sagt er.
Das
rechnet sich aus zwei Gründen: Samoanisches Bier hat im Pazifik einen
guten Ruf, wofür maßgeblich das deutsche Erbe verantwortlich ist.
Neuseeländer und Australier schreckt auch die Tatsache nicht ab, dass
samoanisches Bier mit Malz und Zucker gebraut wird – was billiger ist,
als dem deutschen Reinheitsgebot zu folgen.
Westerlunds
zweiter Trumpf ist ausgerechnet die Abhängigkeit Samoas von den
Einfuhren. "Es kommen unzählige Container ins Land, die leer wieder
zurückgehen. Daher kann ich für die Ausfuhr vergleichsweise günstige
Frachtraten aushandeln", sagt er und zwinkert mit einem Auge. "Noch ein
Bier?"
Einmal im Monat
legt ein Tanker aus Singapur in Apia an und beliefert Samoa mit
flüssigen Brennstoffen. Die Lizenz für die Verteilung auf den Inseln
vergibt die Regierung jeweils für fünf Jahre, derzeit hat Westerlund
sie. Ohne ihn fährt auf Samoa kein Auto, gibt es keine Elektrizität.
Denn Strom wird fast ausschließlich über Dieselaggregate erzeugt.
Ein
Unternehmer dieses Kalibers bekommt problemlos Kapital für weitere
Investitionen. Die übergroße Mehrheit der Samoaner dagegen hat keine
Chance, je einen Kredit zu erhalten, ein Gewerbe aufzuziehen und sich
selbstständig zu machen. Der Grund dafür sind die Gesetze aus Zeiten der
deutschen Kolonialherrschaft, auf die die Einheimischen seit
Jahrzehnten stolz sind und die sie bis heute ängstlich hüten.
Die
Landverordnung des Deutschen Reiches für sein pazifisches Schutzgebiet
ist die Grundlage dafür, dass die Menschen auf Samoa trotz international
bescheinigter Armut nicht wirklich arm sind. Doch was lange ein Segen
war, entwickelt sich inzwischen immer mehr zu einem Fluch.
Ende
des 19. Jahrhunderts war es zwischen dem Deutschen Reich, den USA und
Großbritannien zum Wettlauf um die Macht auf den Inseln im Südpazifik
gekommen. Nach allerlei wilden Drohgebärden einigte man sich schließlich
1899 im Samoa-Vertrag auf die Zweiteilung der Inselgruppe zugunsten
Deutschlands und der USA. Ausnahmsweise gingen die Briten leer aus.
Zwar
wurde Großbritannien durch andere pazifische Inseln entschädigt, und
ohnehin gebot die Regierung Ihrer Majestät damals über gigantische
Landmassen und Millionenvölker auf allen Kontinenten. Doch die Herren
des Empire waren das Teilen neuer Territorien nicht gewöhnt, sie konnten
sich nicht damit abfinden, dass die wenigen Krümel zwischen Australien
und Südamerika an die Deutschen fallen sollten.
Also
wurde der Landkauf auf Samoa vorangetrieben. Sollte Berlin doch dort
regieren, den Gewinn würde London einstreichen. Doch die Deutschen waren
in diesem Fall wachsam, diplomatisch und schlau. Sie erließen unter
anderem wegen der Rivalität mit den Briten ein Landverkaufsverbot, das
bis heute gilt. Die Folge davon ist, dass etwa 80 Prozent des Landes auf
den Insel Samoas den Dorfgemeinschaften gehört. Die Bewohner dürfen es
nutzen, aber nicht beleihen oder veräußern.
Das
garantiert nahezu jedem Samoaner, dass er im eigenen Haus oder dem der
Familie auf reichlich Grund und Boden lebt. Jeder Clan hat genug Land,
um Geflügel in beliebiger Menge zu halten, Schweine zu mästen oder
Rinder zu züchten. Jeder hat freien Zugang zum fischreichen Meer, kurz:
Niemand muss obdachlos sein oder hungern.
Die
Kehrseite ist, dass nur wenige auf den Inseln über bewegliche Güter
verfügen, entsprechend ungeübt ist der Umgang mit Bargeld. Gehälter
werden wöchentlich ausgezahlt, damit die Arbeitnehmer die Lohntüte eines
Monats nicht gleich durchbringen. "Die Gefahr besteht allzu oft. Die
Regierung zahlt alle zwei Wochen, und häufig sind die Leute schon Tage
vorher völlig pleite", sagt ein Beamter in Apia.
Wer
Kredit will, müsste wie überall im pazifischen Raum Land als Sicherheit
stellen. Genau das ist auf Samoa wegen der Eigentumsverhältnisse
praktisch unmöglich, der Weg zur Existenzgründung, zum Ausbruch aus der
Dorfgemeinschaft praktisch verstellt.
Auch
die starren gesellschaftlichen Strukturen blockieren jeden Wandel.
Individualität, die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sind in der
"Fa'a Samoa" nicht vorgesehen. Sie betont den Konsens, nicht den
Dissens.
Eine kritische
Diskussionskultur ist unerwünscht, wichtiger als die Einzelleistung ist
es, gemeinsam etwas zu erreichen. "Wer eigene Ideen einbringt, gilt auf
Samoa schnell als ,Fiapoko'", sagt Stefan Szegedi, ein Samoaner
deutsch-österreichischer Herkunft, der in Apia ein Schmuckgeschäft
betreibt. "Man muss sehr aufpassen, dass man mit zu viel Eigeninitiative
nicht den falschen Menschen auf die Füße tritt und sie in ihren Augen
bloßstellt. Denn wenn dieser Eindruck entsteht, spricht sich das auf
Samoa schnell herum. Und dann steht man rasch allein da."
Tuatagaloa
Joe Annandale hat einen kahl rasierten Schädel, kunstvoll tätowierte
Beine und ziemlich klare Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft
Samoas zu funktionieren hat. "Wir sind hier das Gesetz, wir sorgen für
Recht und Ordnung", sagt der Mann mit Vorfahren aus Schottland und
Schweden. Mit "wir" meint er die Matai, die Oberhäupter der Familien und
der Dörfer. Die bestimmen, was zu geschehen hat und was zu unterlassen
ist.
Annandale
ist außerdem ein "Ali'i", ein "hörender Matai". Das ist die Oberschicht
der Oberhäupter, ein "Ali'i" lässt diskutieren und entscheidet am Ende,
ob das Urteil der anderen Bestand hat. Wenn er "uma" sagt, ist jede
Debatte zu Ende und die Zeit gekommen, seine Entscheidung zu verkünden.
"Die Versammlung muss mein Wort akzeptieren, alles andere wäre eine
Herausforderung. Und das würde ich streng bestrafen", sagt Annandale –
und man hat keinen Zweifel, dass er das tun würde.
Annandale
ist gebildet, gewandt und als Chef einer großen, luxuriösen
Ferienanlage ziemlich erfolgreich. Mit seinem Outfit – rosa Polohemd,
Bootsschuhe – und seinem lässigen britischen Slang könnte er als
Geschäftsmann aus allen möglichen Metropolen durchgehen, Sydney,
Hongkong, Miami. Doch Tuatagaloa Joe Annandale ist Häuptling an der
samoanischen Südküste und verteidigt dort eine jahrhundertealte
Gesellschaftsform. Dabei ist er ein Mann der Zukunft – sagt er
jedenfalls selbst: "Ich bin ein ziemlich moderner Matai." Verglichen mit
anderen Männern von Einfluss auf diesen Inseln stimmt das sogar.
Die
Dorfräte sind schnell dabei, drakonische Strafen zu verhängen, wenn
einer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt. "Einem Mann wurde das
Haus angezündet, weil er seine eigene Kirche bauen wollte. Das Dorf
hatte aber entschieden, dass nur eine christliche Konfession zulässig
ist", erzählt Annandale. "Das war hart, viel zu hart."
In
einem anderen Dorf wurde einem jungen Mann für einen geringfügigen
Diebstahl eine ungeheure Sühne auferlegt. "So viel Vieh und Fische, wie
von ihm gefordert wurden, hätte er in seinem ganzen Leben nicht
aufbringen können", sagt Annandale. "Ich habe die Strafe abgemildert."
Der
Matai ist modern, vor allem aber glaubt er sich gut informiert. "Ich
weiß, dass die Vereinten Nationen in Fällen wie diesen Verstöße gegen
die Menschenrechte sehen", sagt er. "Es ist klar, dass unser
Gesellschaftssystem unter internationaler Beobachtung steht." WELT
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