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Dienstag, 16. August 2016

Samoa ist anders

Die First Lady hat ihren Auftritt am Ende der Zeremonie, die sich über Stunden hinzieht. Filifilia schlüpft aus ihren Schuhen. Mit kleinen Schritten geht sie zur Grünfläche vor den Tribünen und streckt die Arme aus. Sie schließt die Augen, lächelt und beginnt, zu der Musik zu tanzen, die blechern aus den Lautsprechern scheppert.
So anmutig sieht das aus, dass die Menschen, die Riten wie diese kennen, klatschen, jubeln und schließlich mittanzen. Samoa feiert seinen Unabhängigkeitstag. Zum 52. Mal wird an diesem Tag im Juni dem Ende der Kolonialzeit gedacht. Dem Abzug der Neuseeländer, der Deutschen – aller Weißen.
Wer auf den Ehrenrängen vor dem Parlament in der Hauptstadt Apia keinen Platz bekommen hat, feiert auf der Straße – friedlich und fröhlich. "He, Palangi, was starrst du nach oben, suchst du den Himmel?", necken sie einen Weißen. "Schau dich doch um, der Himmel ist hier unten bei uns." Stimmt, denkt der Palangi. Wenn es irgendwo ein Paradies gibt, dann muss es auf einer dieser Inseln hier in der Südsee sein. Doch das täuscht.
Zehn grüne Tupfer inmitten der unendlichen Weite des Südpazifiks, das ist "Malo Sa'oloto Tuto'atasi o Sāmoa", der unabhängige Staat Samoa. Von dort betrachtet, ist der Rest der Welt endlos weit weg. Die erste größere Landmasse, Neuseeland, liegt knapp 2900 Kilometer entfernt, der nächste Nachbar Tonga 900 Kilometer.
Als der Entdecker Louis-Antoine de Bougainville um 1770 auf den ersten Inseln der Südsee landete, schrieb er, "das wahre Utopien, den Garten Eden" entdeckt zu haben. Und als wenig später der englische Seefahrer James Cook die entlegenen Eilande erreichte, gingen viele seiner Matrosen vor der Abfahrt über Bord, weil sie lieber auf einer der Inseln bleiben wollten, als nach England zurückzusegeln.
Auch die Deutschen, die ersten Kolonialherren Samoas, verließen die Insel nur ungern. Drei Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden sie von den Neuseeländern vertrieben. Hundert Jahre ist das jetzt her. Dennoch sind viele Deutsche geblieben, wie ein Blick ins Telefonbuch Samoas zeigt. Hertels stehen da drin, Kaysers oder Schreckenbergs. Auch sonst ist das deutsche Erbe noch spürbar. Das gereichte den Samoanern lange zum Vorteil – erweist sich aber heute als Hindernis auf dem Weg zu mehr Wohlstand.
Der Südseestaat hat seit Jahrhunderten keine Kriege mehr geführt, er kennt keine Staatskrisen oder ethnischen Konflikte und so gut wie keine Fälle schwerer Kriminalität. Vor fünf Jahren gab es einen Banküberfall, den ersten überhaupt. Davon sprechen sie in den Dörfern noch heute. Der Täter wurde gefasst. Wohin hätte er auch fliehen sollen? In American Samoa, dem Teil der Inselgruppe, der zu den USA gehört, tragen die Polizisten Colts. "Wir sind unbewaffnet, unsere Pistolen lagern in Magazinen", sagt ein samoanischer Ordnungshüter.
Es gibt keine Kälteeinbrüche auf Samoa und keine Hitzewellen, keine Tropenkrankheiten und keine gefährlichen Tiere. Die Durchschnittstemperatur liegt bei 27 Grad, und es fällt regelmäßig so viel Regen, dass ein paar Samen, Körner oder ein eingegrabener Strunk einer Ananas reichen, um es aus den schweren, fruchtbaren Böden üppig sprießen zu lassen. Dichte Wälder und saftig-grüne Höhenzüge grenzen an puderzuckerfeine Strände. Dazwischen liegen wie kleine bunte Sprenkel herausgeputzte, blumengeschmückte Dörfer. Man könnte meinen, vor den Kulissen eines süßlichen Südsee-Streifens zu stehen. Das ist die eine Seite.
Die andere sind die nüchternen Statistiken. Die Vereinten Nationen zählen den Inselstaat zu den "Least Developed Countries", den am wenigsten entwickelten Ländern. Und die Dynamik ist gering. "Das Wachstum der samoanischen Wirtschaft war in den vergangenen fünf Jahren schwach und unbeständig, ein Ergebnis einer Serie von empfindlichen Rückschlägen", steht im jüngsten Länderbericht des Internationalen Währungsfonds.
Zwei Drittel der Menschen arbeiten in der Landwirtschaft, aber die trägt nur fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Regelmäßig ziehen schwere Stürme über das Inselreich und verwüsten vor allem die Südküsten. 2012 hatte Samoa 6,42 Sturmtote pro 100.000 Einwohner zu beklagen, mehr als jedes andere Land der Welt. Und 2012 war kein Ausnahmejahr für den Inselstaat.
Der Währungsfonds hat akribisch erfasst, dass auf Samoa seit 2008 sowohl die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte als auch die anderer Waren deutlich gesunken ist. Die Staatsschulden steigen dagegen rasch an, und das Handelsbilanzdefizit ist riesig, weil das Gros der Waren für den täglichen Bereich eingeführt werden muss. Die Inflation lag laut IWF 2012 bei durchschnittlich 6,5 Prozent, und die Arbeitslosenquote, würde man sie nach Maßstäben eines Industrielandes erfassen, läge wohl bei 60 bis 70 Prozent.
Nach den Maßstäben westlicher Länder ist Samoa ein Armenhaus – nur kann man dieses Inselreich danach nicht messen. Das eigentlich exotische dieser Inselwelt sind nicht etwa seine Palmen und Strände, sondern der Lebensstil seiner Bewohner, die "Fa'a Samoa". Und die misst Bargeld vergleichsweise wenig Bedeutung bei.
In der Dämmerung geht es die Küstenstraße entlang in einen der Vororte Apias. Das Staatsoberhaupt, Tupuola Taisi Tufuga Efi, und seine tanzfreudige Gattin Filifilia haben zum Dinner geladen. Der Fahrtwind weht den Duft von feuchten Pflanzen, von Erde und fremden Aromen ins Auto. An den Straßenrändern trotten schwarz-weiß gefleckte Bachen mit ihren Ferkeln entlang. Nirgendwo auf der Insel liegt Müll, überall wird gefegt und gerecht. Die Rasenstücke sind akkurat gestutzt.
Noch immer wohnen viele Samoaner in den traditionellen Fale, windgekühlten Holzhäusern ohne Wände. Sie bestehen nur aus gemauerten Sockeln und verzierten Säulen, die schlichte Dächer tragen. Man führt darin ein Leben auf dem Präsentierteller. "Intimität oder Rückzugsorte gibt es in dieser Gesellschaft nicht. Ich weiß gar nicht, wie hier die Kinder entstehen", wundert sich ein Europäer, der schon lange auf der Insel lebt. Zumal sich das Inselreich als konservativ-christlich und überaus prüde gibt.
Die Stimme zu erheben ist verpönt. Wer es tut, verstößt gegen die "Fa'a Samoa", er verliert sein Gesicht. Kein ungutes Wort in der Öffentlichkeit, keine Hektik. Auch nicht am Telefon. 100.000 Handys soll es auf den Inseln geben, bei einer Gesamtbevölkerung von 185.000.
Tufuga Efi und Filifilia empfangen in ihrem Privathaus, einem stattlichen, fast hundert Jahre alten Holzgebäude mit Veranda. In der Empfangshalle stehen Bücher in den Regalen, auf dem Lesebord liegt eine Familienbibel. Daneben samoanische Kunst und Insignien der Macht, ein Kopfschmuck. Präsident oder König wären falsche Titel für den ersten Mann im Staat. Oberster Häuptling trifft es besser. Obwohl das für einen weit gereisten Politiker wie Tufuga Efi archaisch klingt.
Dass sich ein Deutscher auf den Inseln aufhält, hat Tufuga Efi neugierig gemacht, er will den Palangi sehen. Er kennt und schätzt Deutschland, wie viele Samoaner. Erst zu Jahresbeginn war der Oberhäuptling mit schwedischen Vorfahren in Berlin mit Präsident Joachim Gauck zusammengetroffen. Die einzige unangenehme Überraschung dort war das frostige Wetter.
Ihre Hoheit ließ noch vom Flughafen aus das KaDeWe ansteuern, um sich einen wärmenden Hut zu kaufen. "Es war ein Glück, dass zu Kolonialzeiten die Deutschen auf Samoa waren. Die haben ihre besten Leute zu uns geschickt. Das hätten die Briten nie getan", sagt er in seiner Residenz in Apia. Während des Smalltalks werden Wein und Kokosmilch gereicht, die Bediensteten knien mit einem Bein am Boden, wenn sie nachschenken.
Andere Palangi werden von den Samoanern weniger wohlwollend betrachtet. Die US-Amerikaner zum Beispiel. 2011 wechselte der Inselstaat die Datumsgrenze, ist also nicht mehr der Staat, in dem die Sonne zuletzt untergeht, sondern der, über dem sie laut internationaler Konvention als erstes aufgeht. Man wolle an die Nachbarn Neuseeland und Australien heranrücken, begründete die Regierung in Apia den Schritt. Aber man rückt eben auch ein Stück weg von den USA. Dass American Samoa nun auf der anderen Seiten der Datumsgrenze liegt, kümmert die West-Samoaner nicht.
Tufuga Efi war zweimal Premierminister, bevor er Staatsoberhaupt wurde. Er kennt das politische Tagesgeschäft, hat aber keine große Lust, darüber zu reden. Lieber diskutiert der Katholik über den von ihm bewunderten ehemaligen Papst Benedikt. Als es um die Probleme Samoas geht, wird er einsilbiger.
"Nun, alles muss weite Wege zurücklegen, bevor es uns erreicht. Und dann gehen viele von hier weg", sagt er. Wegen der Armut? "Armut?", fragt Tufuga Efi leicht belustigt. "Ich erzähle Ihnen dazu mal was. Als es erneut um internationale Hilfe für uns ging, platzte es aus dem Staatschef von Fidschi heraus: "Warum schon wieder Geld für Samoa? Ich habe da noch nie einen schlanken Menschen gesehen."
Dick sein bedeutet reich sein in diesem Teil der Welt. Und es gibt dort so viele beleibte Menschen, dass Samoa Air 2013 begonnen hat, die Preise der Flugtickets auch nach dem Gewicht der Fluggäste zu berechnen. Offiziell als arm zu gelten sei doch kein Fehler, meint einer der Spitzenbeamten Tufuga Efis. "Das machte es leichter, internationale Hilfe zu bekommen", erklärt er. Und überhaupt: Es geht dem Inselreich doch leidlich gut. Die First Lady ist da kritischer. "Wenn ich zum Himmel hochblicke und all die Flugzeuge sehe, denke ich manchmal: Und alle fliegen über uns hinweg", sagt Filifilia.
Kaum ein Staat ist aufgrund seiner Lage isolierter als Samoa. Er liegt im Herzen der Südsee-Inselwelt, und gerade einmal zwei Passagierschiffe laufen pro Woche den Hafen Apia an. Und vom internationalen Flughafen gehen wöchentlich im Schnitt 14 Direktflüge in die ganze Welt. Nach Neuseeland und Australien, Fidschi und Hawaii. Der Direktflug von Los Angeles wurde vor einiger Zeit gestrichen. "Wir befinden uns mitten im Nichts", sagt Hans-Joachim Keil, der Chef des größten Fernsehsenders von Samoa, TV3, und deutet mit weiter Geste aus dem Fenster seines Büros in Apia. "Wie will man da eine florierende Wirtschaft aufbauen?"
Keils Büro sieht wüst aus. Nach Hektik und Arbeitswut, also so gar nicht nach "Fa'a Samoa". Das liegt vielleicht an Keils deutschem Blut. Der Mann ist wie so viele führende Männer Samoas ein "Afftassi", was übersetzt "Hälfte vom Ganzen" heißt. Anders ausgedrückt: Er ist ein Mischling. Kaum ist der Besucher durch die Tür, zieht Keil ein altes, gerahmtes Porträt hervor. Es zeigt einen preußischen Totenkopfhusaren in schwarzer Uniform, Hans-Joachim Keils gleichnamigen Großvater.
Der kam 1903 als Pflanzer auf die Insel. Er verliebte sich in eine Einheimische und gründete mit ihr eine Familie. Ein echter Samoaner kann ein "Afftassi" nie werden. Aber das ist dort nicht wichtig. Die Einheimischen nehmen den feinen Unterschied zur Kenntnis und lassen es damit bewenden.
Der Enkel des Husaren hat es weit gebracht. Hans-Joachim Keil war zeitweilig Wirtschafts-, Handels- und Tourismusminister Samoas, er kennt sich noch heute sehr gut in den Kassen des Inselstaates aus. "Wir sind völlig von Einfuhren abhängig", sagt er. "Wir haben sicher zwanzigmal so viel Importe wie Exporte." Der unabhängige Staat Samoa ist nahezu bei allen Gütern, die zu einem modernen Leben zählen, auf Einfuhren angewiesen. "Wir bezahlen das aus Steuermitteln, den Einnahmen aus dem Tourismus und vor allem mit dem Geld, was die Samoaner im Ausland in die Heimat schicken", erklärt Keil.
Es leben inzwischen weit mehr Samoaner außer Landes als auf den Inseln, die meisten zieht es nach Neuseeland. Auch in Australien oder den USA gibt es größere Kolonien. Die Menschen gehen, weil es in ihrem Südseeparadies kaum Jobs gibt. Ohne diese Auswanderer, die noch in der zweiten und dritten Generation Geld nach Hause überweisen, wäre Samoa nicht überlebensfähig.
Selbst diese Finanzspritzen würden jedoch nicht ausreichen, um den Südseestaat am Leben zu halten. "Wir bekommen Geld und Kredite von anderen Staaten und internationalen Organisationen", sagt Keil. Hauptgeldgeber ist Neuseeland, das sich als letzte Kolonialmacht weiterhin in der Pflicht sieht. Daneben geben Australien, Japan und die EU Geld, ein wenig auch die USA. "Und es kommt immer mehr aus China", sagt Keil. Allerdings selten Bargeld, die Chinesen bauen lieber Krankenhäuser, Schulen, Regierungsgebäude oder Sportkomplexe.
Der protzige Gerichtshof etwa, der sich wie ein gigantisches, gerade gelandetes Raumschiff neben dem baufälligen Parlamentsgebäude ausbreitet, ist ein Geschenk Pekings. "Wenn die Chinesen aktiv werden, bringen sie alles mit: Pläne, Baumaterialien, die Arbeiter und alles, was für deren Versorgung nötig ist, bis hin zu Paketen mit Reis", sagt ein Diplomat in Apia. Die Hilfsoffensiven Pekings sind den Weißen auf den Inseln ebenso unheimlich wie den Samoanern. Doch wer will schon nachhaken – bei so viel Großzügigkeit.
Natürlich fordert die Volksrepublik eine Gegenleistung für die Hilfestellung, die in Afrika, Asien und Ozeanien nach dem gleichen Muster abläuft. China zahlt oder baut und bekommt im Gegenzug den Zugriff auf Bodenschätze. Auf Samoa geht die Rechnung nicht auf, denn in der Erde der Inseln schlummert absolut nichts, was man abbauen könnte. "In unserem Fall geht es Peking um die Stimme Samoas in der Vollversammlung der Vereinten Nationen", sagt ein hochrangiger samoanischer Politiker.
Dort haben nämlich Länder wie China oder die USA auch nur eine Stimme, wie das kleine Samoa. Auf diese Art geht Peking schon lange und recht erfolgreich auf Stimmenfang bei den Kleinststaaten in Ozeanien. Und die Volksrepublik braucht viele Stimmen, um ihre Interessen bei der UNO durchzusetzen.
Manchmal aber geht es den Chinesen auch nur um lokalen Einfluss. Die Eltern von Schülern einer Grundschule in Apia wurden jüngst davon überrascht, dass die Volksrepublik 1,8 Millionen Tala, rund 600.000 Euro, für ein neues Gebäude spendierte. Baubeginn soll bereits im Dezember sein. Einzige Nebenwirkung: Die Kinder dort müssen künftig auch Mandarin als Fremdsprache lernen. Das ist nicht allen Eltern recht. Aber der Neubau ist dringend nötig.
Versuche, aus der Umklammerung der Weißen und Chinesen zu entkommen, gibt es seit einigen Jahren, aber sie fruchten bislang nicht. "Wir haben darüber nachgedacht, als einen Schwerpunkt die Industrialisierung zu fördern, aber das ist sinnlos", sagt Misa Telefoni H.T. Retzlaff. "Standorte wie die Philippinen oder Thailand sind da viel weiter, sie sind näher an den Märkten und können billiger produzieren als wir."
Bislang exportiert Samoa fast ausschließlich landwirtschaftliche Produkte, Fisch, Säfte, Arzneipflanzen, Kokosnussöl oder die stärkehaltigen Knollen namens Taro. Sonst existiert nichts, was Geld bringen könnte. Retzlaff hat sich ausführlich mit der Wettbewerbsfähigkeit des Staates beschäftigt, er war lange Finanzminister Samoas und hat einiges versucht, die Steuereinnahmen des Inselreiches zu mehren.
Um auf Samoa produzieren zu können, müssten die Grundstoffe erst Tausende von Kilometern herangeschafft, weiterverarbeitet und wieder ausgeführt werden. Schon aufgrund der Transportwege rechnet sich das nicht. Und dann sind die Eilande nicht einmal für südpazifische Verhältnisse ein Billigstandort. Der Mindestlohn liegt bei 2,50 Tala pro Stunde. Das ist zwar nicht einmal ein Euro, aber wer einen Job hat, verdient in aller Regel mehr und kann damit auf den Inseln ganz auskömmlich leben.
Der größte industrielle Arbeitgeber ist der japanische Autozulieferer Yazaki. Bis zu 3000 Menschen fanden dort zu Hochzeiten Arbeit. Aber spätestens nachdem Anfang des Jahres nach General Motors (GM) und Ford auch Toyota bekannt gegeben hatte, die Produktion in Australien komplett einzustellen, war klar, dass Yazaki sein Werk auf Samoa schließt. Das wollten die Japaner schon lange. "Wir sind heilfroh, dass Schluss ist. Die Fabrik hat sich seit Jahren nicht gerechnet", heißt es aus dem Umfeld des Unternehmens. Der Standort sei eine Art verbrämte Entwicklungshilfe gewesen.
Exminister Retzlaff, dessen T. H. im Namen für Hermann Theodor steht, hatte das kommen sehen. Er hat immer wieder Zukunftsszenarien entworfen, und dabei ist er mindestens so erfinderisch wie sein Großvater aus Stettin. Der war 1906 auf den Inseln gelandet und hatte im Auftrag der Reichsregierung damit begonnen, die ersten Fernsprechverbindungen aufzubauen – was ihm und seinen Nachkommen den Ehrennamen "Telefoni" einbrachte.
"Vor etwa fünf Jahren haben wir davon geträumt, das Genf des Pazifiks zu werden", erzählt Enkel Misa Retzlaff. Ein kleiner, pazifischer Finanzstandort mit Börse sollte Samoa werden. Auf Fidschi gibt es immerhin inzwischen auch einen Handelsplatz. "Aber bei uns wollten nicht mal die großen Unternehmen, die Chinesen oder Brauer gelistet werden", seufzt Retzlaff. "Im Grunde bleibt uns nur der Tourismus."
Doch diese Idee gefällt vielen Matai nicht, den einflussreichen Dorf- und Familienhäuptlingen. Sie fürchten, dass laute, respektlose Fremdlinge die "Fa'a Samoa" und damit die Gesellschaftsordnung auf den Kopf stellen könnten.
Von Tourismus hält auch Charlie Westerlund nichts. Westerlund, ein Mann mit dänischen Vorfahren, hat nichts gegen gute Geschäfte, im Gegenteil, er ist selbst einer der einflussreichsten Unternehmer auf Samoa. Westerlund steht vor seiner nagelneuen Fabrik am Rande Apias, hält eine grünliche Flasche in der Hand und erklärt: "Ich mag Bier." Vor ein paar Jahren saß er mit Geschäftspartnern zusammen und stellte fest, dass die bekannte, auf deutsche Wurzeln zurückreichende Marke Samoas in Grunde ungenießbar sei.
Kurz darauf war er in Deutschland und traf einige Brauereichefs. Der Plan war klar: Er würde auf Samoa sein eigenes Bier brauen. "Warum sollten wir auf Tourismus setzen, wir haben nichts, dass es auf den anderen Inseln nicht auch gibt. Wir sind zu weit entfernt von anderen Ländern, die Fernreisende anziehen", sagt er.
Westerlund investierte vor eineinhalb Jahren umgerechnet 20 Millionen Euro, ließ eine Fabrik hochziehen, heuerte ein Team an und produziert nun eigenes Lagerbier, Taula und Sama heißen die Marken. Eine Kapazität von 100.000 Hektolitern hat die Brauerei, 24.000 Hektoliter werden tatsächlich hergestellt.
Dass die Produktion jedweder Art eine Herausforderung auf Samoa ist, weiß Westerlund. Die Rohstoffe für sein Bier und seine Erfrischungsgetränke muss er einführen. "Fachkräfte sind hier ebenfalls rar", sagt er. Sein Braumeister ist Samoaner, wurde aber in München geschult. "Leute mit technischen Funktionen hole ich von außerhalb."
Eines der größten Probleme ist der Binnenmarkt. Die Brauerei aus deutschen Zeiten mit der Traditionsmarke Vailima stellt schon weitaus mehr her, als sämtliche Samoaner trinken können. Westerlund müsste einen beinharten Verdrängungswettbewerb beginnen – doch er geht einen anderen Weg. "Wir exportieren unser Bier, die ersten Container nach Neuseeland sind schon unterwegs", sagt er.
Das rechnet sich aus zwei Gründen: Samoanisches Bier hat im Pazifik einen guten Ruf, wofür maßgeblich das deutsche Erbe verantwortlich ist. Neuseeländer und Australier schreckt auch die Tatsache nicht ab, dass samoanisches Bier mit Malz und Zucker gebraut wird – was billiger ist, als dem deutschen Reinheitsgebot zu folgen.
Westerlunds zweiter Trumpf ist ausgerechnet die Abhängigkeit Samoas von den Einfuhren. "Es kommen unzählige Container ins Land, die leer wieder zurückgehen. Daher kann ich für die Ausfuhr vergleichsweise günstige Frachtraten aushandeln", sagt er und zwinkert mit einem Auge. "Noch ein Bier?"
Einmal im Monat legt ein Tanker aus Singapur in Apia an und beliefert Samoa mit flüssigen Brennstoffen. Die Lizenz für die Verteilung auf den Inseln vergibt die Regierung jeweils für fünf Jahre, derzeit hat Westerlund sie. Ohne ihn fährt auf Samoa kein Auto, gibt es keine Elektrizität. Denn Strom wird fast ausschließlich über Dieselaggregate erzeugt.
Ein Unternehmer dieses Kalibers bekommt problemlos Kapital für weitere Investitionen. Die übergroße Mehrheit der Samoaner dagegen hat keine Chance, je einen Kredit zu erhalten, ein Gewerbe aufzuziehen und sich selbstständig zu machen. Der Grund dafür sind die Gesetze aus Zeiten der deutschen Kolonialherrschaft, auf die die Einheimischen seit Jahrzehnten stolz sind und die sie bis heute ängstlich hüten.
Die Landverordnung des Deutschen Reiches für sein pazifisches Schutzgebiet ist die Grundlage dafür, dass die Menschen auf Samoa trotz international bescheinigter Armut nicht wirklich arm sind. Doch was lange ein Segen war, entwickelt sich inzwischen immer mehr zu einem Fluch.
Ende des 19. Jahrhunderts war es zwischen dem Deutschen Reich, den USA und Großbritannien zum Wettlauf um die Macht auf den Inseln im Südpazifik gekommen. Nach allerlei wilden Drohgebärden einigte man sich schließlich 1899 im Samoa-Vertrag auf die Zweiteilung der Inselgruppe zugunsten Deutschlands und der USA. Ausnahmsweise gingen die Briten leer aus.
Zwar wurde Großbritannien durch andere pazifische Inseln entschädigt, und ohnehin gebot die Regierung Ihrer Majestät damals über gigantische Landmassen und Millionenvölker auf allen Kontinenten. Doch die Herren des Empire waren das Teilen neuer Territorien nicht gewöhnt, sie konnten sich nicht damit abfinden, dass die wenigen Krümel zwischen Australien und Südamerika an die Deutschen fallen sollten.
Also wurde der Landkauf auf Samoa vorangetrieben. Sollte Berlin doch dort regieren, den Gewinn würde London einstreichen. Doch die Deutschen waren in diesem Fall wachsam, diplomatisch und schlau. Sie erließen unter anderem wegen der Rivalität mit den Briten ein Landverkaufsverbot, das bis heute gilt. Die Folge davon ist, dass etwa 80 Prozent des Landes auf den Insel Samoas den Dorfgemeinschaften gehört. Die Bewohner dürfen es nutzen, aber nicht beleihen oder veräußern.
Das garantiert nahezu jedem Samoaner, dass er im eigenen Haus oder dem der Familie auf reichlich Grund und Boden lebt. Jeder Clan hat genug Land, um Geflügel in beliebiger Menge zu halten, Schweine zu mästen oder Rinder zu züchten. Jeder hat freien Zugang zum fischreichen Meer, kurz: Niemand muss obdachlos sein oder hungern.
Die Kehrseite ist, dass nur wenige auf den Inseln über bewegliche Güter verfügen, entsprechend ungeübt ist der Umgang mit Bargeld. Gehälter werden wöchentlich ausgezahlt, damit die Arbeitnehmer die Lohntüte eines Monats nicht gleich durchbringen. "Die Gefahr besteht allzu oft. Die Regierung zahlt alle zwei Wochen, und häufig sind die Leute schon Tage vorher völlig pleite", sagt ein Beamter in Apia.
Wer Kredit will, müsste wie überall im pazifischen Raum Land als Sicherheit stellen. Genau das ist auf Samoa wegen der Eigentumsverhältnisse praktisch unmöglich, der Weg zur Existenzgründung, zum Ausbruch aus der Dorfgemeinschaft praktisch verstellt.
Auch die starren gesellschaftlichen Strukturen blockieren jeden Wandel. Individualität, die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sind in der "Fa'a Samoa" nicht vorgesehen. Sie betont den Konsens, nicht den Dissens.
Eine kritische Diskussionskultur ist unerwünscht, wichtiger als die Einzelleistung ist es, gemeinsam etwas zu erreichen. "Wer eigene Ideen einbringt, gilt auf Samoa schnell als ,Fiapoko'", sagt Stefan Szegedi, ein Samoaner deutsch-österreichischer Herkunft, der in Apia ein Schmuckgeschäft betreibt. "Man muss sehr aufpassen, dass man mit zu viel Eigeninitiative nicht den falschen Menschen auf die Füße tritt und sie in ihren Augen bloßstellt. Denn wenn dieser Eindruck entsteht, spricht sich das auf Samoa schnell herum. Und dann steht man rasch allein da."
Tuatagaloa Joe Annandale hat einen kahl rasierten Schädel, kunstvoll tätowierte Beine und ziemlich klare Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft Samoas zu funktionieren hat. "Wir sind hier das Gesetz, wir sorgen für Recht und Ordnung", sagt der Mann mit Vorfahren aus Schottland und Schweden. Mit "wir" meint er die Matai, die Oberhäupter der Familien und der Dörfer. Die bestimmen, was zu geschehen hat und was zu unterlassen ist.
Annandale ist außerdem ein "Ali'i", ein "hörender Matai". Das ist die Oberschicht der Oberhäupter, ein "Ali'i" lässt diskutieren und entscheidet am Ende, ob das Urteil der anderen Bestand hat. Wenn er "uma" sagt, ist jede Debatte zu Ende und die Zeit gekommen, seine Entscheidung zu verkünden. "Die Versammlung muss mein Wort akzeptieren, alles andere wäre eine Herausforderung. Und das würde ich streng bestrafen", sagt Annandale – und man hat keinen Zweifel, dass er das tun würde.
Annandale ist gebildet, gewandt und als Chef einer großen, luxuriösen Ferienanlage ziemlich erfolgreich. Mit seinem Outfit – rosa Polohemd, Bootsschuhe – und seinem lässigen britischen Slang könnte er als Geschäftsmann aus allen möglichen Metropolen durchgehen, Sydney, Hongkong, Miami. Doch Tuatagaloa Joe Annandale ist Häuptling an der samoanischen Südküste und verteidigt dort eine jahrhundertealte Gesellschaftsform. Dabei ist er ein Mann der Zukunft – sagt er jedenfalls selbst: "Ich bin ein ziemlich moderner Matai." Verglichen mit anderen Männern von Einfluss auf diesen Inseln stimmt das sogar.
Die Dorfräte sind schnell dabei, drakonische Strafen zu verhängen, wenn einer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt. "Einem Mann wurde das Haus angezündet, weil er seine eigene Kirche bauen wollte. Das Dorf hatte aber entschieden, dass nur eine christliche Konfession zulässig ist", erzählt Annandale. "Das war hart, viel zu hart."
In einem anderen Dorf wurde einem jungen Mann für einen geringfügigen Diebstahl eine ungeheure Sühne auferlegt. "So viel Vieh und Fische, wie von ihm gefordert wurden, hätte er in seinem ganzen Leben nicht aufbringen können", sagt Annandale. "Ich habe die Strafe abgemildert."
Der Matai ist modern, vor allem aber glaubt er sich gut informiert. "Ich weiß, dass die Vereinten Nationen in Fällen wie diesen Verstöße gegen die Menschenrechte sehen", sagt er. "Es ist klar, dass unser Gesellschaftssystem unter internationaler Beobachtung steht."   WELT

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