In diesem Jahr hat
die Mathematikprüfung für den mittleren Schulabschluss in Berlin und
Brandenburg einen neuen Tiefstand erreicht. Die Schulmathematik ist auf
Betreiben des von Psychologen geleiteten Instituts für
Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zur reinen Vortäuschung des
Rechnens geworden. Die zuständige Behörde sieht es anders: Das
Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg will keine
„signifikante Häufung einfacher Aufgaben“ beobachtet haben.
Was gilt als einfach? Eine
Teilaufgabe in der Berliner Prüfung zum mittleren Schulabschluss
lautete: „Im Filmpark Babelsberg wird in jedem Jahr die Anzahl der
Besucher gezählt. Geben Sie ein Jahr an, in dem die Besucherzahl
niedriger als 300 000 war.“ Gezeigt wird keine Tabelle, sondern ein
Säulendiagramm für die Jahre 2007 bis 2015. Eine solche Aufgabe ist gar
keine Mathematik. Der Prüfling musste nur die kürzeste Säule aussuchen
und die darunter stehende Ziffernfolge abmalen. Hätte er dabei nur ein
wenig fehlgegriffen, wäre er auch mit einem Punkt belohnt worden.
Außerdem
hat der Lehrer vor der Prüfung mit seinen Schülern gewiss ein halbes
Jahr lang Ablesen und Zeichnen anhand der Aufgaben aus dem Aufgabenpool
Vera 8 des IQB für Achtklässler geübt. Hier findet sich eine solche
Aufgabe unter „Darstellung in Diagrammen“. Sie fordert vom Schüler
Säuleninterpretationskompetenz, die zur „Allgemeinen Kompetenz K3“
(Mathematisch Modellieren) zählt. Doch tatsächlich hat die Aufgabe mit
Mathematik und Modellieren nichts zu tun, sondern nur mit Lesefähigkeit
und Alltagsverstand.
Vera
stellt Achtklässlern Aufgaben wie „Zeichne ein Quadrat mit der
Seitenlänge fünf Zentimeter“. Die Aufgabe ist der Leitidee L3, der
Allgemeinen Kompetenz K5, dem Anforderungsbereich I und der
Kompetenzstufe 1A im „Didaktischen Kommentar“ zugeordnet.
Wer sich statt
dessen auf die didaktische Kombination L1-K4-I-1A einlassen will, darf
ein analoges Fieberthermometer ablesen. Mit Aufgaben dieser Art werden
schon Drittklässler in den jährlichen bundesdeutschen Zwangstests Vera 3
traktiert. Gern beruft man sich darauf, dass für den Alltag die
Grundrechenarten ausreichen. Ein derart verkümmerter Alltagsverstand
kann aber nicht einmal mehr die einfachsten logischen Folgerungen
vollziehen. Der Alltagsverstand ist nicht fix, sondern schärft sich
durch die Schule.
Vor
anspruchsvolleren Aufgaben wurde in Berlin mit einem Sternchen gewarnt.
Die höhere Schwierigkeitsstufe, die ein Drittel der Gesamtpunktzahl
ausmacht, wird aber allen „inkludierten“ Schülern erlassen, die nur die
„erweiterte Berufsbildungsreife“ erlangen sollen. Anspruchsvoll soll
beispielsweise folgende Teilaufgabe sein: „In der Jugendherberge gibt es
Drei-Bett-Zimmer und Fünf-Bett-Zimmer. Es stehen sechzehn Zimmer mit
insgesamt 66 Betten zur Verfügung. Ermitteln Sie die Anzahl der
Drei-Bett-Zimmer und der Fünf-Bett-Zimmer.“
Der Prüfling könnte sich nun überlegen: In sechzehn Dreibettzimmern
könnten nur 48 Betten stehen, die überzähligen achtzehn müssten zu je
zweien auf neun Zimmer verteilt werden, um daraus Fünfbettzimmer zu
machen. Ein Schüler mit schneller Auffassungsgabe könnte ebenso
bedenken, dass bei gleich vielen Drei- wie Fünfbettzimmer nur zwei
Betten übrigbleiben, so dass er die richtigen Anzahlen sofort mit Probe
auf Richtigkeit hinschreibt. Aufgabe gelöst.
Oder
doch nicht ganz? Die Rechnung wurde nämlich ohne den „Operator“
gemacht. Operatoren sind die normierten Befehlsformen, die von der
Mathematikdidaktik unter der Ägide der Kultusministerkonferenz (KMK)
ersonnen wurden. Wichtig ist beispielsweise das „Ermitteln“. Unter
„ermitteln“ versteht die KMK: „Zusammenhänge oder Lösungswege aufzeigen
und unter Angabe von Zwischenschritten die Ergebnisse formulieren.“
Ermitteln gilt per se als anspruchsvoll. Wer nur die Reife zum Beruf
anstrebt, muss in Berlin nichts ermitteln.
Wenn der
Schüler die Lösung sofort sieht und begründen kann, lässt ihn die
Aufforderung „Ermitteln Sie!“ trotzdem im Ungewissen. Soll er nun zwei
Gleichungen in x und y hinschreiben (zwei Punkte) und lösen (zwei
Punkte) oder nicht? Überraschenderweise wird laut Korrekturunterlagen
gnädig beschieden: „Auch eine Lösung durch Probieren - mit Nachweis -
wird akzeptiert.“
Blicken
wir zurück. Wie sah eine Realabschlussprüfung Mathematik in
Baden-Württemberg vor vierzig Jahren aus? Ebenso wie die heutige
Berliner Prüfung hatte sie acht Aufgaben, die aber mehrere Teilfragen
hatten und ausführliche Rechnungen ohne Taschenrechner erforderten.
Keine Sachaufgaben waren darunter. Es gab zwei Aufgaben zu
arithmetischen und geometrischen Folgen, zwei zu Rotationskörpern, eine
zu Dreiecken, eine zu Trapezen, eine zu Quadern und eine zu
Pyramidenstümpfen. Bei den Teilfragen kam fast das ganze Arsenal des
geometrischen Curriculums zum Einsatz, fast alles Themen, die im
heutigen Gymnasium nicht einmal mehr zugelassen sind. Kein heutiger
Realschüler und kaum ein Abiturient würde diese Prüfung bestehen.
Die
letzte Teilaufgabe der baden-württembergischen Prüfung setzte räumliches
Vorstellungsvermögen voraus, wie es ein angehender Student beim
technischen Zeichnen oder im Ingenieurwesen benötigt: „Einem
quadratischen Pyramidenstumpf mit den Maßen a = 6,3 Zentimeter (Länge
der Grundkante), b = 4,2 Zentimeter (Länge der Deckkante) und s = 5,5
Zentimeter (Länge der Seitenkante) wird eine Kugel umbeschrieben. Wie
groß sind der Radius und das Volumen dieser Umkugel?“ Zum Vergleich die
Berliner Kugelstoß-Teilaufgabe 3c: „Der Durchmesser einer Kugel für
Männer beträgt zwölf Zentimeter. Berechnen Sie das Volumen der Kugel für
Männer.“ Ein Blick auf das Formeldoppelblatt, Eintippen in den
Taschenrechner, fertig!
Von Hans-Jürgen Bandelt, Astrid Baumann, Wolfgang Kühnel, Franz Lemmermeyer, Thilo Steinkrauss.
Zu den Autoren: Hans-Jürgen Bandelt ist Professor für Mathematik an der
Universität Hamburg, Astrid Baumann lehrt Mathematik an der Frankfurt
University of Applied Sciences, Wolfgang Kühnel ist emeritierter
Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart, Franz Lemmermeyer
lehrt Mathematik am Gymnasium St. Gertrudis in Ellwangen, Thilo
Steinkrauß am Herder-Gymnasium in Berlin.
Wie ein FAZ-Artikel gelesen werden sollte...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.