Die ab den späten Neunzehnhundertsechzigern reihenweise am
Kiosk aufpoppenden Sexblätter bekamen schnell juristischen Ärger. Es
hagelte Strafanzeigen wegen „Anstiftung zum unzüchtigen Verkehr“.
Polizisten durchsuchten Redaktionen, Staatsanwaltschaften konfiszierten
Karteien. Die Bonner Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften
unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Rudolf Stefen beäugte die
Darbietungen von Geschlechtsmerkmalen penibel, zählte jedes Schamhaar
und indizierte so manches Presswerk, das sie für Oberschweinkram hielt.
Nicht bloß Pornobildchen und Erotikstücke, auch Leserkontaktanzeigen
waren im Visier der „BuPrü". Die Sex-Annoncen standen unter dem
allerdings nur zu berechtigten Verdacht, „unzüchtigen Verkehr
herbeizuführen“. Für Publikationen wie die legendären „St. Pauli
Nachrichten“ (ein Weilchen auch Spielplatz von Stefan Aust, Henryk M.
Broder und andere vielversprechenden Talenten), ging es somit ans
Eingemachte. Denn einen Großteil ihrer Erlöse erzielte das Genre mit
eben diesen Kontaktanzeigen. Mehr noch: Die Leser kauften Gazetten wie
die SPN (zeitweise über eine Million Auflage) hauptsächlich wegen des
opulenten Kleinannoncenteils.
Der lief unter dem Rubrum „Seit nett
aufeinander“, eine Verballhornung des Mottos „Seid nett zueinander“ der
trutschigen Springer-Zeitung „Hamburger Abendblatt“.
Damit die Kontaktspalten nicht gar so aufgeilend anmuteten, bürgerten
sich dort bezüglich gesuchter Sexualpraktiken rasch ein paar Codes ein,
die jeder in der Inseratenszene drauf hatte. Hallo, wir haben
verstanden! Also, „griechisch“ stand für Analverkehr (historisch
halbwegs nachvollziehbar), französisch für (oh, là là!) Mundverkehr.
Englisch bezeichnete was mit Hauen. Doch was, Madre mia, war denn nun
spanisch? Irgendwann klärte mich ein Kumpel auf: dabei rubbele man sich
zwischen den hoffentlich üppigen Brüsten der Partnerin einen runter.
Ich hätte geschworen, dergleichen liefe unter italienisch, denn
busenwundermäßig war ich sozialisiert durch Gina, Sofia und Silvana. Auf
die italienische Tour mache man es aber anders, nämlich in der
Achselhöhle, klärte mich mein Freund auf. Großes Staunen! Auch auf die
Bedeutung von „Natursekt“ kam ich Simpel aus der Kleinstadt Stade nicht
von selbst.
Die spannende Zeit des Sexanzeigenentschlüsselns ist längst passé.
Doch gibt es neue Codes, die geknackt werden wollen. Was zum Beispiel
ist eine „Mobile ethnische Minderheit“? Der Begriff bezeichnet Menschen,
die man früher – zugegeben etwas unscharf – Zigeuner nannte. MEM wird
allerdings wegen seiner homerischen Lachhaftigkeit selten in
Presseberichten, dafür aber weiterhin tapfer im Beamtendeutsch
verwendet.
Ein anderer Schlüsselbegriff, der aus dem Fundus der
Polizeipressestellen stammt, schafft es dagegen häufig in die
Blaulicht-Spalten der Tagespresse. Wenn eine „Hochzeitsfeier“ mit
ungefähr 300 Gästen in Hamburg, Berlin, Mainburg oder sonst wo plötzlich
„eskaliert“, wenn Messer blitzen, Knochen knacken und die Polizei mit
mindestens 20 Streifenwagen anrücken muss, weil die Beamten anderenfalls
vom feierfrohen Mob vermöbelt würden, dann ahnt der geübte
Medienkonsument, aus welcher Ecke von Bunteuropa die Hochzeitsgäste
stammen könnten.
Ebenso, wenn „wegen eines verstopften Klos“ in einem Heidenheimer
Lokal eine Massenschlägerei losbricht, welche dank flugs
herbeitelefonierter Unterstützertrupps eines Prügelduos stattfinden
kann. Wenn „junge Raser“ sich nachts um vier in Köln „Wettrennen“ mit
unschönem, zuweilen auch für Unbeteiligte letalem Ergebnis liefern, dann
braucht man nicht erst den Prozess abzuwarten, um auszuschließen, dass
die Gladiatoren der Sause Maik oder Torsten heißen.
Und wenn über die „siebenköpfige Personengruppe“, die nächtens in
Hamburgs Innocentiapark einen Mann „anspricht“, um ihn sodann
niederzuschlagen, auf den zu Boden Gegangenen einzutreten und hernach an
benachbarten Plätzen noch weitere Passanten zu klatschen - selbst wenn
also polizeiseitig über die Täter aus „Jugendschutzgründen“ nicht mehr
verraten werden darf als ihr Alter („15, 16, 16, 17, 18, 19 und 19“), so
darf der gewiefte Leser dieser Nachricht doch einigermaßen sicher sein:
um beschwipste Nachwuchskräfte eines hanseatischen Ruderclubs handelt
es sich wohl nicht. Genaueres leakt dann meistens rasch durchs Internet.
Was war los, als sich mal wieder „Männer“ vor einem „Kulturverein“
blutig kloppten? Haben sich da die Gäste des lokalen Literaturhauses
über eine Juli Zeh-Lesung in die Haare gekriegt?
„Beziehungstaten“, die
in der Presse häufig vermutet werden, wenn Frauen in Blutlachen
aufgefunden werden, was hat man sich darunter konkret vorzustellen? Wenn
drei junge Fußballer einen Linienrichter totschlagen, weil sie mit
einer Entscheidung des Mannes nicht einverstanden waren, sind das
einfach diese typisch holländischen Hitzköpfe?
Und warum eigentlich gibt
es neuerdings wieder so viele „Rocker“ in Deutschland? Darunter ganze
Gangs, die – etwas rockeruntypisch - weder Maschinen noch
Motorradführerscheine besitzen, laut Presseberichten aber „Rockerkriege“
ausfechten? Fragen über Fragen. Antworten sind von den meisten
Feder-Haltern (Ausnahme hier) nicht zu erwarten.
Eine Journalistin namens Canan Topçu legte vor einigen Jahren in der
„Zeit“ dankenswerterweise offen, warum sie in dem Fall des erschlagenen
holländischen Linienrichters darauf verzichtet hätte, den ethnischen -
marokkanischen - Hintergrund der Täter zu benennen, anders als es der
Dortmunder Journalistik-Professor Horst Pöttker gefordert hatte. Topçu:
„Pöttker geht von einem ‚mündigen Publikum‘ aus, an das sich
Journalisten zu richten hätten. Ich nicht. Ich habe lediglich Bürger vor
Augen, die ich nach bestem Wissen und Gewissen informieren möchte.“
Ehrlicher kann man nicht ausstellen, worum es im Nanny-Journalismus
geht.
Das Dumme ist nur, dass Leute wie Topçu – unter anderem 12 Jahre
Redakteurin beim Presseerzeugnis „Frankfurter Rundschau“ – in einer
Medienwelt leben, die verdunstet ist. Der Journalist als
Nachrichtentreuhänder? Der Schreiber in seinem Stübchen entscheidet, was
aufs Tapet kommt und was nicht? Himmel, wie vorgestrig ist das denn?
Sicher, viele Medienschaffende hätten es lieber gesehen, wenn die
Kölner Silvesternachtparty nie ein großes Thema geworden wäre. Aber das
klappte bekanntlich nicht. Die Vertuschungshoheit, das
Verschweigeprivileg, die Bemäntelungsbefugnis, die Lizenz zum
Retouchieren, Zensieren, Relativieren - alles dahin. Verfluchtes
Internet!
Noch dümmer: Die als „Achtsamkeit“ (Topçu) sich gerierende,
zivilgesellschaftlich selbstveredelte Omertà vieler Medien hat dazu
geführt, dass ein Klima profunden Misstrauens entstanden ist, geht es um
grassierende Formen von Kriminalität. Jeder Straßenraub, jeder
Tankstellenüberfall, jedes Menschenzusammenschlagen, jede
Vergewaltigung, jede sexuelle Belästigung, you name it, wird von einem
größer werdenden Teil der Öffentlichkeit, welcher medialen
Verlautbarungen schlicht nicht mehr traut, automatisch auf einschlägige
Konten gebucht.
Das haftet im Kopf. Auch wenn sich später herausstellt, dass die
Täter in diesem oder jenem Fall Deutsche ohne Mihigru waren. Das, und
nichts anderes, ist die Frucht von jener Kraft, die stets das Gute will
und meist das Ungute schafft.
Fairerweise muss man anmerken, dass das Problem nicht immer bei Behörden liegt, noch nicht. Das Hamburger Polizeipresseportal
zum Beispiel spiegelt recht freimütig, wer in der Hansestadt am
kriminellen Tagesgeschehen beteiligt war oder unter dringendem
Tatverdacht steht. Nutzt leider nix, wenn die Medien die ihnen von der
Polizei kostenfrei überlassenen Meldungen um entscheidende Details
verkürzen. Da kommt es schon mal zu Glanzleistungen der Manipulation,
die an Strafvereitelung aufgrund toleranzbesoffener Hirnerweichung
grenzen.
Der jüngste Fall: Am 19. August veröffentlichte die Polizei Hamburg
einen Zeugenaufruf, wie üblich in der Hoffnung auf dessen korrekte
Weiterverbreitung durch die Lokalmedien. Es ging um einen Raubüberfall
auf einen Supermarkt im Stadtteil Eimsbüttel. Drei Täter, bewaffnet mit
einem Messer und einer Schusswaffe, hatten die Angestellten gefesselt
und 1.000 Euro geraubt. Nach Auslösung des Alarms und Befreiung der
Opfer wurde eine Fahndung eingeleitet, welche ergebnislos blieb. Die
Polizeipressestelle veröffentlichte detaillierte Täterbeschreibungen und
vermerkte ausdrücklich, jeder der drei Räuber habe ein „südländisches
bzw. nordafrikanisches Aussehen“.
Die „Hamburger Morgenpost“ druckte die Polizeimeldung nur zum Teil
ab. Nicht ein Sterbenswörtchen verlor sie über das Wichtigste des
Zeugenaufrufs, nämlich die Angaben über die Bekleidung und das Aussehen
der Täter. Stattdessen vermeldete sie, die Polizei fahnde „jetzt mit
Hochdruck nach den Tätern“; gerade so, als verteile die Polizei an der
Elbe üblicherweise nur Knöllchen an Parksünder.
Zum Ausweis ihrer Kooperation mit den Ermittlern druckte die Zeitung
eine Telefonnummer der Polizei ab, unter der sich mögliche Zeugen melden
sollten. Zeugen, denen die Mopo zuvor alles unterschlagen hatte, was
deren Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge hätte helfen können.
Den letzten Lesern des mit Fug und Recht untergehenden Blödblattes
kann es wurscht sein. Selbst diese armseligen Idioten haben, denke ich,
instinktiv ganz gut verstanden, wer sich da im Supermarkt bediente. Wolfgang Röhl
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