Stationen

Samstag, 20. August 2016

Walter Wallenschuß

Fährt man von dem memelländischen Städtchen Heydekrug, heute Šilutė, durch das Memeldelta die sechs Kilometer zur Insel Ruß, dann stößt man auf halbem Wege auf den litauischen Hinweis „Oto Bismarko“. Ein von Birken gesäumter Weg führt von hier in das Rupkalwer Moor, das Hermann Sudermann in seinen „Litauischen Geschichten“ (1917) so anschaulich mit dem Schicksal von Jons und Erdme beschrieben hat und von dem er sagt, „daß man das Ende nirgends absehen kann“.

Seit 1905 hat der preußische Staat hier Kolonisten angesiedelt.
Gleich hinter der Kreuzung treten vier Gebilde aus grauem Holz in Erscheinung, von denen eins am ehesten einem Wohnhaus ähnelt, die anderen drei scheinen Ställe zu sein. Alles wirkt so, als sei es aus dem Moor emporgestiegen und würde in absehbarer Zeit wieder im Moor versinken. Die Ställe sind windschief, die Fenster herausgeschlagen und die Türen, sofern überhaupt noch vorhanden, hängen fast abgefallen in den Angeln.
In einem seltsamen Widerspruch zu diesem Erscheinungsbild steht die Tatsache, daß der Bewohner des Hauses offensichtlich über ein Mobiltelefon verfügt. Auf Anruf reagiert er sofort und zeigt sich keineswegs überrascht: „Kommt rein, kommt in die gute Stube.“

Es geht durch einen dem Zusammenbruch nahen Windfang, in dem Tierfutter und zahllose Utensilien miteinander vermengt sind, in die Küche, in der sich das Durcheinander noch steigert, und dann in die „gute Stube“, in der ganz offensichtlich jegliche Ordnungsbemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Eine Frau ist nicht vorhanden.
„Walter Wallenschuß, nicht Valteris Valenčius, ich bin Deutscher.“ Angesichts der 85 Jahre ein erstaunlich frisches Gesicht bei leidlicher Rasur, klare blaue Augen und ein schmuddeliger Trainingsanzug.

Walter spricht ein schriftreines Deutsch mit leichter ostpreußischer Färbung. Auf dem Tisch liegen Ulla Lachauers „Paradiesstraße“, ein Zukunftsroman von Hans Dominik und mehrere völlig zerlesene Zeitschriften, vor dem Kachelofen eine Stihl-Motorsäge. In einer Ecke lagert ein Karton mit Exemplaren des Memeler Dampfbootes.
Am 21. August 1931 sei er in diesem Hause geboren und er wolle auch nicht daraus weg. Über die Zeit um 1945 spricht er offenbar nicht gerne. Sein Vater habe an der Invasionsfront in der Normandie gestanden, und die Wehrmacht habe ihn zusammen mit seiner Mutter in die Elchniederung evakuiert, wo die Front über sie hinweggerollt sei. 1946 sei er mit seiner Mutter in das alte Haus zurückgekehrt.
Fast kein Mensch war damals in der gesamten Umgebung. Bei ihrer Rückkehr hätten die zwanzig Holzhäuser aus deutscher Zeit noch gestanden. Mit der Zeit wären Menschen aus der weiteren Umgebung gekommen und hätten alle übrigen Häuser als Brennholz abgerissen. Überlebt habe er nur durch den Fischfang. Später habe er auch Fische verkaufen können.
Daß die Litauer ihn als Deutschen angefeindet hätten, könne er eigentlich nicht sagen, nur in einigen Fällen sei es so gewesen. Furchtlos hat er sich dafür eingesetzt, daß die Straße vor seinem Haus bereits in der Sowjetzeit offiziell wieder nach Bismarck benannt wird.
Seit dem 1. Januar 2016 erhält er 220 Euro Rente. Einmal in der Woche kommt in der Abgeschiedenheit ein kleiner Lieferwagen vorbei und bringt die notwendigen Lebensmittel, bisweilen auch Post.
Verbindung mit Deutschland habe er nur durch gelegentliche, doch recht seltene Besucher. Und die ärztliche Versorgung? Vor kurzem sei er wegen eines gebrochenen Beines im Krankenhaus gewesen, aber das habe ihm nicht zugesagt. Er streift das linke Bein seiner speckigen Trainingshose hoch. Ein lockerer, gräulicher Verband rutscht runter auf seinen Knöchel und eine blutverkrustete offene Stelle wird sichtbar. Anfang August hat ihn zusätzlich noch ein großes Unglück getroffen: seine 25 Ziegen sind plötzlich verschwunden.
Man kann vermuten, daß sie in irgendwelchen Kochtöpfen verschwunden sind oder auf entfernten Marktplätzen wieder auftauchen. Ein weiteres periodisches Unglück nimmt Walter allerdings gelassen hin.

Von der Memel her wird das gesamte Gebiet regelmäßig überschwemmt. „2015 war es nicht so schlimm, aber 2014“, und er zeigt einen Kalender, in dem er in einem Boot vor seinem Haus abgebildet ist. An den Verfärbungen der Hauswände sind die Wasserstände abzulesen. Und was macht er, wenn das Wasser seine Lagerstätte, von Bett kann man eigentlich nicht reden, erreicht? „Dann prüfe ich vom Bett aus mit der linken Hand, wie hoch das Wasser ist, und muß notfalls das Bett höher stellen.“
Heftig klagt er darüber, daß alle deutschen Sender auf Mittel- und Langwelle abgeschaltet sind. Und an diesem Punkt wird Walter ganz lebhaft, denn seine Leidenschaft sind Geschichte und Politik. Einmal darauf angesprochen, ist er nicht mehr zu bremsen. Dabei erweist er sich als unbeugsamer Revisionist. Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erklärt er so, daß vielen in der Bundesrepublik die Haare zu Berge stehen würden.
Aber Walter erweist sich als wohlinformiert und ist um Fakten nicht verlegen. Und das gilt keineswegs nur für die Biographie von Hermann Sudermann. Er hört ja nicht nur deutsche, sondern auch litauische, polnische und russische Sender. Seine größte Sorge ist die „aggressive Politik der USA gegenüber Rußland“, die uns in einen neuen Krieg stürzen könne: „Die Polen haben nichts dazugelernt. Vor dem Zweiten Weltkrieg ließen sie sich durch England mißbrauchen, und jetzt lassen sie sich wieder durch Amerika mißbrauchen.“ Isoliert ist Walter zwar im Moor, aber politisch keineswegs abgesackt.
Wie eine mythische, mit seiner Umgebung verwachsene Figur steht er bei unserem Weggang da, gebeugt und auf einen Stock gestützt, aber immer noch voller Lebenskraft. Zum Abschied reicht er die Hand. Deren Finger sind infolge einer Verletzung steif. Das beim Abschied von in Ostpreußen verbliebenen Deutschen gerufene  „Kommt wieder!“ sagt er nicht. Doch seine Augen lassen einen nicht los. Der letzte Bewohner der Moorkolonie „Bismarck“.
JF 34/16


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