Stationen

Samstag, 6. August 2016

Gauck und Krenz

Bundespräsident Gauck, der einst den Bürgerrechtlern nahestand, lehnt Volksentscheide auf Bundesebene ab. Es gebe eine ganze Reihe von Themen wie etwa Sicherheit, Steuern und Währungspolitik, „bei denen einfache Antworten wie Ja oder Nein nicht ausreichen“, sagte er der Bild-Zeitung. „Oft müssen schwierige Kompromisse gefunden werden, die mit Volksentscheiden nicht möglich sind.“ Deshalb sei im Bund die „repräsentative Demokratie die beste Antwort auf die komplizierten Probleme unserer Zeit“.

Gauck hat einen wichtigen Streitpunkt angesprochen, ohne mit seiner Schlußfolgerung zu überzeugen. Die repräsentativen Demokraten der Bundesrepublik sind offensichtlich unfähig, Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu geben. Sie wursteln sich durch und lassen aus Konfliktstoff buchstäblichen Explosivstoff entstehen. Sie haben Deutschland in einen Staat mit ethnisch-kulturellen und religiösen Bruchlinien verwandelt, in dem der Terror zum Alltagsphänomen zu werden droht.

Parallel dazu verflüssigt die europäische Währungsunion unser Erspartes und bringt den Kontinent ins Taumeln. Beides hätten Volksentscheide verhindern können. Schon die theoretische Möglichkeit, daß die direkte Demokratie ihre Fehlentscheidungen korrigiert, hätte die Funktionseliten zu mehr Vor- und Umsicht gezwungen.
Im übrigen gibt es wenig, was den Begriff der repräsentativen Demokratie länger rechtfertigt. Der Bundestag ist zur Abnickmaschine degeneriert. Als Kontrollorgan der Exekutive und zentrales politisches Diskussionforum des Landes ist er ein Totalausfall. Eine parlamentarische Opposition und alternative Politikangebote existieren faktisch nicht. Unverdrossen generiert die politische Klasse sich über inzüchtige Parteienlisten.
Zugleich schrumpfen die Parteien, ihre Mitglieder sind überaltert oder, soweit berufstätig, überwiegend im öffentlichen Dienst. Folglich sind sie an einer Senkung der Staatsquote und der Entlastung der Steuerbürger desinteressiert. Die Qualität des Personals befindet sich im freien Fall. So sieht die SPD sich aktuell außerstande, einen überzeugenden Kanzlerkandidaten zu präsentieren, und in der Union findet sich niemand, der den Aufstand gegen das Zerstörungswerk der Kanzlerin wagt.

Das sind, von einer Metaebene aus betrachtet, Symptome eines systemischen Strukturwandels, den der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in dem 2004 veröffentlichten, gleichnamigen Buch als „Postdemokratie“ bezeichnet hat. Die demokratischen Institutionen und Rituale: Parteien, Parlament, Wahlen, öffentliche Debatten, funktionieren weiter, gleichen jedoch einer entkernten Kulissenarchitektur. Regierungswechsel haben kaum noch politische Bedeutung, und Wahlkämpfe sind lediglich Spektakel, die von konkurrierenden PR-Experten bestimmt werden.
Die Gründe für diese Entwicklung, die den Funktionseliten entgegenkommt, sind vielfältig: die Globalisierung, die den Nationalstaaten die Handlungsmöglichkeiten beschneidet; die permanente Umwälzung der Arbeitswelt, die den Beschäftigten keine Zeit mehr läßt, um ein verbindendes Klassenbewußtsein zu entwickeln; die Entwicklung des Bürgers zum Konsumenten, der PR-Reflexen folgt.
Vor allem macht Crouch den Neoliberalismus verantwortlich. Er habe den Staat veranlaßt, seine Funktionen in die Privatwirtschaft auszulagern und ihr zu gestatten, über Lobbyismus und Beratertätigkeit die Regeln der Politik wesentlich mitzubestimmen. Angela Merkel hat den Zusammenhang in offenherzig-naiver Weise auf den Begriff der „marktkonformen Demokratie“ gebracht.

Das Buch von Crouch liefert wichtige Stichworte, doch keine tiefschürfende Analyse. Von der Politik fordert er, „neue Identitäten“ zu mobilisieren, allerdings keine „im essentialistischen Sinne“, also nationale, kulturelle, ethnische. Vorbilder sieht er vielmehr in den feministischen oder ökologischen Bewegungen. Es gehe nicht um „no global“, sondern um „new global“!
Solche Textstellen weckten schon seinerzeit die Vermutung, daß Crouch ein Teil des globalistischen Establishments ist und seine Kritik nur taktisch bedingt war.

Die Vermutung wird nun bestätigt durch die Artikel und Interviews, die er anläßlich der Brexit-Abstimmung verfaßt und gegeben hat. Empört und fassungslos konstatiert er, daß die einzige „soziale Identität mit politischen Implikationen“, die verblieben ist, die nationale ist, welche sich nun gegen „eine globale Wirtschaft“ und „eine kosmopolitische Elite“ wendet, die für „Migrationsströme, Flüchtlingswellen, islamistischen Terror“ verantwortlich gemacht wird. Das erinnere an die NS-Psychose. Damit outet er sich gleichfalls – als Postdemokrat!
Wo der Brite vor zwölf Jahren immerhin ein Legitimationsproblem erkannt hat, feiert der an der Freien Universität Berlin tätige, um eine flotte Formulierung nie verlegene Zeitgeschichtsprofessor Paul Nolte die Morgenröte einer „multiplen Demokratie“, in der neben die nationalen nun transnationale und globale Akteure treten: das EU-Parlament, die Uno, die Nichtregierungsorganisationen (NGOs).

Das sind Gedankenspiele, die dem naiven bundesdeutschen Kosmopolitismus entspringen, der in der Praxis dazu führt, daß die eigene politische Einheit von selbstbewußteren Kollektiven dominiert wird.

Die provozierende Selbstsicherheit, mit welcher der türkische Präsident Erdoğan seine Anhänger hier in Marsch setzt, ist nur das Komplementärstück zur deutschen Schwäche.

Daraus ließe sich lernen, daß die Nation bis auf weiteres der Ausgangspunkt ist, von dem aus die planetarische Flurbereinigung aufgehalten oder verzögert werden kann. In diesem Sinne hatte Karlheinz Weißmann in seinem 2009 erschienenen Bändchen „Post-Demokratie“ postuliert, nicht das Verschwinden der Demokratie sei das hauptsächliche Problem, sondern die Schwächung des Staates, der die Voraussetzung für eine Demokratie bildet. Weißmann räumt ein, daß der Nationalstaat möglicherweise zu schwach sei, „um die kommenden militärischen und ökonomischen Auseinandersetzungen zu bestehen“.
Aus dieser Erkenntnis heraus hat die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe in ihrem Buch „Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion“ (2007) ein von Carl Schmitts Großraum-Theorie inspiriertes, echtes multiples Modell vorgeschlagen, in dem miteinander verwandte Staaten zu kooperativen Systemen zusammengebunden sind. Das würde der Pluralität der Welt entsprechen und den unterschiedlichen Kulturen erlauben, ihre Eigenheiten zu bewahren.

Eine bundesdeutsche Elite, die den Namen verdient und die Interessen des Demos wahrt, müßte sich bemühen, diese vorsichtig in neue, größere politische Strukturen zu überführen. Das würde die Einsicht in den Wert des Eigenen und die Fähigkeit zur politischen Gestaltung voraussetzen, was unseren Funktionseliten aufgrund ihrer Konditionierung abgeht. Sie erblicken ihr Heil im Politikverzicht und in der Verwandlung Deutschlands in eine Filiale des Kosmopolitismus.
Sie scheuen sich nicht, den deutschen Demos demographisch zu relativieren. Mit dem Satz „Das Asylrecht kennt keine Obergrenzen“ hat die Kanzlerin klargemacht, daß sie ein abstraktes, maßlos ausgeweitetes Recht über die konkrete Selbstbestimmung des eigenen Volkes stellt.

Das kann als Hinweis verstanden werden, daß die Demokraten, die uns zu repräsentieren vorgeben, sich de facto als Funktionsgrößen einer kosmopolitischen Agenda verstehen.

Jedenfalls geben sie den Außendruck, der auf das Gemeinwesen wirkt, ungebremst nach innen weiter. Notdürftig stabilisieren sie damit das System, dem sie ihre Machtposition verdanken. Die Bürger werden gezwungen, konkrete Rechte und Vorteile, die sie als Staatsbürger genießen, mit der Aussicht auf imaginäre Vorteile wie Buntheit, Vielfalt und Bereicherung aufzugeben.

Unterm Strich bleiben der Verlust an Lebensqualität, die Terrorangst, die vermehrte Repression durch die Steuerschraube und die EZB. Da die Funktionseliten eine freie Debatte darüber kaum überstehen würden, erklären sie alle, die außerhalb der sinnentleerten Rituale der Postdemokratie versuchen politisch zu intervenieren, zum „antidemokratischen Mob“ (Colin Crouch).
Dieser „Mob“ ist nichts anderes als eine legitime politische Opposition. Mit Hilfe unter anderem der Medien wird er als Systemfeind kriminalisiert und zum Objekt eines kalten Bürgerkriegs gemacht. Um diese innenpolitische Praxis adäquat zu beschreiben, muß der Begriff „Postdemokratie“ weiterentwickelt und durch „Demokratur“ ersetzt werden. Er bezeichnet eine staatliche Praxis, die den Bezug zum Demos innerlich aufgegeben hat, ihm die Selbstbestimmung verweigert und unter Beibehalt demokratischer Äußerlichkeiten sukzessive eine autoritäre bis diktatorische Politik etabliert.

Und so erinnert Joachim Gauck mit seiner Ablehnung von Volksabstimmungen an den SED-Generalsekretär Egon Krenz, der nach seiner Wahl am 18. Oktober 1989 eine „Wende“ verkündete, jedoch die Zulassung der Oppositionspartei „Neues Forum“ mit der Begründung ablehnte: „Unsere Gesellschaft verfügt über genügend demokratische Foren, in denen sich die unterschiedlichsten Interessen der verschiedenen Schichten der Bevölkerung für einen lebenswerteren Sozialismus äußern können.“  Thorsten Hinz

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