Bundespräsident
Gauck, der einst den Bürgerrechtlern nahestand, lehnt Volksentscheide
auf Bundesebene ab. Es gebe eine ganze Reihe von Themen wie etwa
Sicherheit, Steuern und Währungspolitik, „bei denen einfache Antworten
wie Ja oder Nein nicht ausreichen“, sagte er der Bild-Zeitung.
„Oft müssen schwierige Kompromisse gefunden werden, die mit
Volksentscheiden nicht möglich sind.“ Deshalb sei im Bund die
„repräsentative Demokratie die beste Antwort auf die komplizierten
Probleme unserer Zeit“.
Gauck hat einen wichtigen Streitpunkt angesprochen, ohne mit seiner
Schlußfolgerung zu überzeugen. Die repräsentativen Demokraten der
Bundesrepublik sind offensichtlich unfähig, Antworten auf die Fragen
unserer Zeit zu geben. Sie wursteln sich durch und lassen aus Konfliktstoff
buchstäblichen Explosivstoff entstehen. Sie haben Deutschland in einen
Staat mit ethnisch-kulturellen und religiösen Bruchlinien verwandelt, in
dem der Terror zum Alltagsphänomen zu werden droht.
Parallel dazu verflüssigt die europäische Währungsunion unser
Erspartes und bringt den Kontinent ins Taumeln. Beides hätten
Volksentscheide verhindern können. Schon die theoretische Möglichkeit,
daß die direkte Demokratie ihre Fehlentscheidungen korrigiert, hätte die
Funktionseliten zu mehr Vor- und Umsicht gezwungen.
Im übrigen gibt es wenig, was den Begriff der repräsentativen
Demokratie länger rechtfertigt. Der Bundestag ist zur Abnickmaschine
degeneriert. Als Kontrollorgan der Exekutive und zentrales politisches
Diskussionforum des Landes ist er ein Totalausfall. Eine
parlamentarische Opposition und alternative Politikangebote existieren
faktisch nicht. Unverdrossen generiert die politische Klasse sich über
inzüchtige Parteienlisten.
Zugleich schrumpfen die Parteien, ihre Mitglieder sind überaltert
oder, soweit berufstätig, überwiegend im öffentlichen Dienst. Folglich
sind sie an einer Senkung der Staatsquote und der Entlastung der
Steuerbürger desinteressiert. Die Qualität des Personals befindet sich
im freien Fall. So sieht die SPD sich aktuell außerstande, einen
überzeugenden Kanzlerkandidaten zu präsentieren, und in der Union findet
sich niemand, der den Aufstand gegen das Zerstörungswerk der Kanzlerin
wagt.
Das sind, von einer Metaebene aus betrachtet, Symptome eines
systemischen Strukturwandels, den der britische Politikwissenschaftler
Colin Crouch in dem 2004 veröffentlichten, gleichnamigen Buch als
„Postdemokratie“ bezeichnet hat. Die demokratischen Institutionen und
Rituale: Parteien, Parlament, Wahlen, öffentliche Debatten,
funktionieren weiter, gleichen jedoch einer entkernten
Kulissenarchitektur. Regierungswechsel haben kaum noch politische
Bedeutung, und Wahlkämpfe sind lediglich Spektakel, die von
konkurrierenden PR-Experten bestimmt werden.
Die Gründe für diese Entwicklung, die den Funktionseliten
entgegenkommt, sind vielfältig: die Globalisierung, die den
Nationalstaaten die Handlungsmöglichkeiten beschneidet; die permanente
Umwälzung der Arbeitswelt, die den Beschäftigten keine Zeit mehr läßt,
um ein verbindendes Klassenbewußtsein zu entwickeln; die Entwicklung des
Bürgers zum Konsumenten, der PR-Reflexen folgt.
Vor allem macht Crouch den Neoliberalismus verantwortlich. Er habe
den Staat veranlaßt, seine Funktionen in die Privatwirtschaft
auszulagern und ihr zu gestatten, über Lobbyismus und Beratertätigkeit
die Regeln der Politik wesentlich mitzubestimmen. Angela Merkel hat den
Zusammenhang in offenherzig-naiver Weise auf den Begriff der
„marktkonformen Demokratie“ gebracht.
Das Buch von Crouch liefert wichtige Stichworte, doch keine
tiefschürfende Analyse. Von der Politik fordert er, „neue Identitäten“
zu mobilisieren, allerdings keine „im essentialistischen Sinne“, also
nationale, kulturelle, ethnische. Vorbilder sieht er vielmehr in den
feministischen oder ökologischen Bewegungen. Es gehe nicht um „no
global“, sondern um „new global“!
Solche Textstellen weckten schon seinerzeit die Vermutung, daß Crouch
ein Teil des globalistischen Establishments ist und seine Kritik nur
taktisch bedingt war.
Die Vermutung wird nun bestätigt durch die Artikel
und Interviews, die er anläßlich der Brexit-Abstimmung verfaßt und
gegeben hat. Empört und fassungslos konstatiert er, daß die einzige
„soziale Identität mit politischen Implikationen“, die verblieben ist,
die nationale ist, welche sich nun gegen „eine globale Wirtschaft“ und
„eine kosmopolitische Elite“ wendet, die für „Migrationsströme,
Flüchtlingswellen, islamistischen Terror“ verantwortlich gemacht wird.
Das erinnere an die NS-Psychose. Damit outet er sich gleichfalls – als
Postdemokrat!
Wo der Brite vor zwölf Jahren immerhin ein Legitimationsproblem
erkannt hat, feiert der an der Freien Universität Berlin tätige, um eine
flotte Formulierung nie verlegene Zeitgeschichtsprofessor Paul Nolte
die Morgenröte einer „multiplen Demokratie“, in der neben die nationalen
nun transnationale und globale Akteure treten: das EU-Parlament, die
Uno, die Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Das sind Gedankenspiele, die dem naiven bundesdeutschen
Kosmopolitismus entspringen, der in der Praxis dazu führt, daß die
eigene politische Einheit von selbstbewußteren Kollektiven dominiert
wird.
Die provozierende Selbstsicherheit, mit welcher der türkische
Präsident Erdoğan seine Anhänger hier in Marsch setzt, ist nur das
Komplementärstück zur deutschen Schwäche.
Daraus ließe sich lernen, daß die Nation bis auf weiteres der
Ausgangspunkt ist, von dem aus die planetarische Flurbereinigung
aufgehalten oder verzögert werden kann. In diesem Sinne hatte Karlheinz
Weißmann in seinem 2009 erschienenen Bändchen „Post-Demokratie“
postuliert, nicht das Verschwinden der Demokratie sei das hauptsächliche
Problem, sondern die Schwächung des Staates, der die Voraussetzung für
eine Demokratie bildet. Weißmann räumt ein, daß der Nationalstaat
möglicherweise zu schwach sei, „um die kommenden militärischen und
ökonomischen Auseinandersetzungen zu bestehen“.
Aus dieser Erkenntnis heraus hat die belgische
Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe in ihrem Buch „Über das
Politische. Wider die kosmopolitische Illusion“ (2007) ein von Carl
Schmitts Großraum-Theorie inspiriertes, echtes multiples Modell
vorgeschlagen, in dem miteinander verwandte Staaten zu kooperativen
Systemen zusammengebunden sind. Das würde der Pluralität der Welt
entsprechen und den unterschiedlichen Kulturen erlauben, ihre
Eigenheiten zu bewahren.
Eine bundesdeutsche Elite, die den Namen verdient und die Interessen
des Demos wahrt, müßte sich bemühen, diese vorsichtig in neue, größere
politische Strukturen zu überführen. Das würde die Einsicht in den Wert
des Eigenen und die Fähigkeit zur politischen Gestaltung voraussetzen,
was unseren Funktionseliten aufgrund ihrer Konditionierung abgeht. Sie
erblicken ihr Heil im Politikverzicht und in der Verwandlung
Deutschlands in eine Filiale des Kosmopolitismus.
Sie scheuen sich nicht, den deutschen Demos demographisch zu
relativieren. Mit dem Satz „Das Asylrecht kennt keine Obergrenzen“ hat
die Kanzlerin klargemacht, daß sie ein abstraktes, maßlos ausgeweitetes
Recht über die konkrete Selbstbestimmung des eigenen Volkes stellt.
Das
kann als Hinweis verstanden werden, daß die Demokraten, die uns zu
repräsentieren vorgeben, sich de facto als Funktionsgrößen einer
kosmopolitischen Agenda verstehen.
Jedenfalls geben sie den Außendruck, der auf das Gemeinwesen wirkt,
ungebremst nach innen weiter. Notdürftig stabilisieren sie damit das
System, dem sie ihre Machtposition verdanken. Die Bürger werden
gezwungen, konkrete Rechte und Vorteile, die sie als Staatsbürger
genießen, mit der Aussicht auf imaginäre Vorteile wie Buntheit, Vielfalt
und Bereicherung aufzugeben.
Unterm Strich bleiben der Verlust an Lebensqualität, die Terrorangst,
die vermehrte Repression durch die Steuerschraube und die EZB. Da die
Funktionseliten eine freie Debatte darüber kaum überstehen würden,
erklären sie alle, die außerhalb der sinnentleerten Rituale der
Postdemokratie versuchen politisch zu intervenieren, zum
„antidemokratischen Mob“ (Colin Crouch).
Dieser „Mob“ ist nichts anderes als eine legitime politische
Opposition. Mit Hilfe unter anderem der Medien wird er als Systemfeind
kriminalisiert und zum Objekt eines kalten Bürgerkriegs gemacht. Um
diese innenpolitische Praxis adäquat zu beschreiben, muß der Begriff
„Postdemokratie“ weiterentwickelt und durch „Demokratur“ ersetzt werden.
Er bezeichnet eine staatliche Praxis, die den Bezug zum Demos innerlich
aufgegeben hat, ihm die Selbstbestimmung verweigert und unter Beibehalt
demokratischer Äußerlichkeiten sukzessive eine autoritäre bis
diktatorische Politik etabliert.
Und so erinnert Joachim Gauck mit seiner Ablehnung von
Volksabstimmungen an den SED-Generalsekretär Egon Krenz, der nach seiner
Wahl am 18. Oktober 1989 eine „Wende“ verkündete, jedoch die Zulassung
der Oppositionspartei „Neues Forum“ mit der Begründung ablehnte: „Unsere
Gesellschaft verfügt über genügend demokratische Foren, in denen sich
die unterschiedlichsten Interessen der verschiedenen Schichten der
Bevölkerung für einen lebenswerteren Sozialismus äußern können.“ Thorsten Hinz
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