Am
Dienstag trafen sich der türkische Präsident Recep Erdogan und sein
russischer Kollege Wladimir Putin in St. Petersburg. Es war Erdogans
erste Auslandsreise seit dem mißlungenen Militärputsch Mitte Juli in der
Türkei. Vereinbart wurde das Treffen am Tag nach der Putschnacht in
einem angeblich 40-minütigen Telefonat der beiden Staatschefs. Dazu
passen Meldungen, wonach es die russische Aufklärung war, die beim
Abhören des türkischen Militärfunks Kenntnis von dem Putsch erlangte und
die Information unverzüglich an Erdogan-treue Kontakte in der Türkei
weitergab.
Daß Erdogan Rußland und nicht einen der türkischen NATO-Verbündeten
besucht, ist Signal und Provokation zugleich. In Ankara hat man nicht
übersehen, daß ein Sieg der Generäle in weiten Kreisen der westlichen
Politik auf mehr oder minder klammheimliche Sympathie gestoßen wäre. Der
Staatsstreich wäre eine Zeit lang verurteilt worden, die siegreichen
Offiziere hätten eine Renaissance des säkularen Kemalismus in Aussicht
gestellt, die Rückkehr zur Demokratie versprochen und sich im Übrigen in
jeder Hinsicht zum Westen bekannt. Nennenswerte Sanktionen hätten sie
nicht zu befürchten gehabt; aus Sicht der meisten Liberalen und
besonders der Islamkritiker im Westen wäre dies geradezu ein
Best-Case-Szenario gewesen.
So wie es ausgegangen ist, wendet sich nach Rußland mit der Türkei
auch das zweite Land, dessen Territorium sowohl in Asien als auch in
Europa liegt, vom Westen ab. Dabei baut die russisch-türkische Entente
keineswegs auf eine alte Tradition. Im Gegenteil, das Verhältnis der
beiden Länder ist mit das konfliktreichste der europäischen Geschichte.
Elf Kriege haben die beiden Reiche, das russische und das
türkisch-osmanische, in den zurückliegenden Jahrhunderten ausgefochten.
Der Kaukasus und das Schwarze Meer sind uralte Brennpunkte europäischer
Machtpolitik. Daß die Türkei 1952, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges,
als muslimisches und damals Drittweltland der NATO beitreten konnte,
verdankte sich ausschließlich ihrer Lage an der Südflanke der
Sowjetunion.
Auch das jüngste Einvernehmen zwischen Moskau und Ankara hat keine
lange Geschichte. Noch im Herbst 2015 glaubten die Türken, die Rückkehr
des russischen Bären auf den nahöstlichen Schauplatz abwenden zu können.
Der Abschuß eines russischen Kampfjets über der syrisch-türkischen
Grenze Ende November 2015 läutete eine heftige Eiszeit ein. Die
Beziehungen der beiden Länder kamen zum Stillstand. Der Bau eines
russischen Atomkraftwerks in Akkuyu wurde ebenso gestoppt wie das
Pipelineprojekt Turk Stream; türkische Baufirmen und Bauarbeiter mußten
Rußland verlassen; der florierende Lebensmittelexport nach Russland
brach ein. Vor allem litt der Tourismus. Ganze Hotels an den türkischen
Stränden standen leer, über 90 Prozent weniger Russen besuchten das
Land.
Obendrein begann Moskau die Kurden und ihr Bestreben zu unterstützen,
entlang der türkischen Südgrenze einen eigenen Staat zu gründen. Ein
solcher Schritt kommt für Ankara nicht infrage. Solange die UN-Vetomacht
Rußland in dem Punkt auf türkischer Seite steht – das war bis Ende 2015
der Fall –, sind die Türken einigermaßen rückversichert. Ziehen Rußland
und der Westen an einem Strang, hat Ankara schlechte Karten.
Das Kurdenthema, die schon vor dem Militärputsch anhaltende Kritik an
der Menschen- und Bürgerrechtslage und zu guter Letzt die
Armenienresolution des Deutschen Bundestages Anfang Juni haben gezeigt,
daß Erdogan im Westen auch dann nicht punkten kann, wenn er sich mit den
Russen anlegt. Gleichzeitig stellt man sich in der Türkei – und nicht
nur dort – die Frage, inwieweit der Westen noch Tiger und inwieweit er
nur mehr Papier ist. Daß Europa in der Flüchtlingskrise nicht Manns
genug war, seine eigenen Grenzen zu schützen, war dem Respekt jedenfalls
nicht förderlich.
War es Zufall, daß Erdogan seinen Canossa-Brief an Putin genau am
Wochenende nach dem Brexit absandte? Wie vom russischen Präsidenten seit
dem Abschuß der SU-24 gefordert, entschuldigte der Türke sich
persönlich bei seinem Kollegen. Seither herrscht eitel Sonnenschein.
Russische Politiker und Kommentatoren hatten seit dem Abschuss des
Kampfjets darauf hingewiesen, dass die Türkei sich mit dem Konflikt am
meisten selbst schadet – wirtschaftlich, aber eben auch politisch.
Seit dem Putschversuch läßt Erdogan jede Rücksichtnahme auf die
sogenannten westlichen Werte fallen und arbeitet, nicht wesentlich
anders als Wladimir Putin in Rußland, an seinem eigenen autoritären
Gesellschaftsmodell. Beide spüren, wie die Gewichte auf dem eurasischen
Kontinent sich in Richtung Osten verschieben. Im politischen Weichbild
des künftigen Eurasiens wird die Türkei mit ihren sprachlichen und
kulturellen Wurzeln in Zentralasien eine wichtige Rolle spielen.
Der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die erst im Juni um
Indien und Pakistan erweitert wurde, gehört das Land als Dialogpartner
an. Schon wird in russischen Zeitungen spekuliert, die Türkei könnte
auch der Eurasischen Wirtschafts- und Zollunion aus Rußland, Kasachstan,
Belarus, Armenien und Kirgistan beitreten. Eurasien ist eine Weltregion
im Werden, und nur wenige in Westeuropa sehen das Potential der
Veränderungen am Horizont.
Wenn jetzt noch die EU-Kommission das deutsch-russische
Ostsee-Pipelineprojekt Nord Stream II untersagt, nur damit der Ukraine
nicht jährlich 2 Milliarden US-Dollar Einnahmen aus dem Gastransit
entgehen, realisiert Gazprom mit der Türkei nicht ohne Vergnügen das
Anfang 2016 eingestampfte Alternativprojekt Turk Stream unter dem
Schwarzen Meer. Derzeit brilliert Westeuropa vor allem in der Kunst, vor
lauter Hochnäsigkeit an möglichst vielen Fronten zu verlieren. Thomas Fasbender
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