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Montag, 8. August 2016

Zwischen gesagt und getan liegt der Atlantische Ozean

Am Baltikum misst sich zugleich die Glaubwürdigkeit der Nato und der USA. Insofern könnte ein russischer Angriff auf einen baltischen Staat eine furchtbare Eskalation auslösen.

In der Nato-Russland-Grundakte von 1997 war Russland versprochen worden, dass in den östlichen Bündnisgebieten keine größeren Verbände aufgestellt würden. So entschied sich der Nato-Gipfel in Warschau im Juli dieses Jahres, ständig in Estland 1000 britische, in Lettland 1000 kanadische und in Litauen 1000 deutsche Soldaten „für Manöver“ zu stationieren, die nach gewisser Zeit durch neue Truppen ersetzt werden. Sie sind viel zu schwach, um eine Bedrohung für Moskau darzustellen. Sie sollen auch lediglich in einem etwaigen Kriegsfall eine „Bremsschwelle“ sein, bis Nato-Einheiten zur Verstärkung eintreffen.
Die russische Minderheit in den baltischen Staaten macht zwischen sechs und 35 Prozent aus. Insgesamt leben dort gegenwärtig rund 1726000 Russen, die allerdings keineswegs alle Putin-Anhänger sind. Doch „wo ein Russe ist, ist Russland“, besagt ein häufiges Putin-Wort. Es gibt neben starker Propaganda verdeckte Finanzierungen bestimmter Kreise, Cyber-Angriffe und Handelssanktionen. 

Während der letzten Monate verletzten russische Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe wiederholt die Grenze. Die diversen Manöver direkt an den baltischen Grenzen umfassten offiziell 20000 Soldaten, in Wahrheit waren es jeweils 70000. Putins Nahziel ist es ganz offenbar, in der Region ständige Unruhe zu schaffen. Der nächste Schritt bestünde dann nach dem Vorbild der Krim-Okkupation und dem Vorgehen Moskaus in der Ostukraine im Einsickern von jenen „kleinen grünen Männchen“, also russischen Soldaten ohne offizielle Uniformen und Hoheitsabzeichen. Derartiges würden die baltischen Staaten heute als russische Aggression und Kriegsgrund werten. Eine sehr wichtige Frage ist, ob der russische Präsident wirklich auch reguläre Truppen zu ihrer Eroberung einsetzen würde. 

Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves äußerte dazu unlängst: „Innerhalb von vier Stunden wäre alles vorbei.“ Er vermisse die Entschlossenheit des Westens, die gegen Adolf Hitler vorhanden gewesen sei. Die einstige „moralische Klarheit“ drohe heutzutage auseinanderzufallen. Andere Stimmen glauben, die ganze Region sei in 30 bis 60 Stunden einzunehmen. Nach Riga etwa benötigen russische Flugzeuge lediglich 15 Minuten. Tatsache ist, dass sich Mitte Juli, getarnt in den russischen Wäldern, an der Grenze zu Estland 600 russische Panzer befanden. Zutreffend dürfte sein, dass die baltischen Militäreinheiten gegen eine fünf- bis sechsfache Übermacht zu kämpfen hätten. Nach Erkenntnissen westlicher Stellen liegen die Zuständigkeiten für einen derartigen militärischen Einmarsch einmal beim St. Petersburger Militär-Distrikt mit dem Schwerpunkt Oblast Pleskau [Pskow]. Weiterhin würde die Baltische Flotte betroffen sein, während das heute massiv militärisch ausgebaute Königsberg nach dem Charakter seiner Truppen primär alle Kommunikationswege zu zerstören hätte – notfalls bis nach Berlin. 

Nicht zuletzt muss mit Luftlande-Divisionen zu rechnen sein, die nach dem Vorbild der Besetzung Prags 1968 als erste im Hinterland operieren würden. Jede zählt 6000 bis 8000 Soldaten. Man darf dabei sehr sicher sein, dass im Nato-Hauptquartier jede einzelne dieser Einheiten mit ihrem Standort bekannt ist.
Im September 2014 garantierte der US-Präsident den Balten die volle Unterstützung im Fall einer Bedrohung durch Moskau. Sie könnten sich „100-prozentig“ auf die Hilfe des Nordatlantikpaktes verlassen. Am 10. Juli dieses Jahres auf dem Treffen in Warschau erklärte er ähnlich: „In guten und in schlechten Zeiten, Europa kann auf die USA zählen – stets!“ Eine direkte, schriftliche Sicherheitsgarantie existiert nicht, doch dürften seine Worte den nahezu gleichen Wert haben. 

Bei einem Angriff Russlands auf die baltischen Staaten steht der Westen letztlich vor dem Dilemma, einen vielleicht eskalierenden Nuklear-Krieg zu riskieren oder „im Interesse des Friedens“ nachzugeben, wobei die USA nicht nur das Vertrauen der westeuropäische Bevölkerung verlieren könnten. 

Denn am Baltikum misst sich zugleich die Glaubwürdigkeit der Nato und der USA. Die ganz entscheidende Frage dabei ist, wie lange in Brüssel die zuständigen Gremien der Nato-Stäbe zu einer Entscheidung benötigen – hier geht es dann buchstäblich um Stunden.
Bislang konnte man  nicht selten den Eindruck einer zähen Bürokratie gewinnen, welche die Übernahme von Verantwortung eher scheut. Die ersten Nato-Truppenverbände – es handelt sich um Flugzeuge mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen – wären jedenfalls innerhalb von 48 Stunden einsatzbereit. Weitere Einheiten stünden in weniger als einer Woche im Baltikum, wobei ungeklärt ist, ob diese noch rechtzeitig kämen. Für den Fall einer Rückeroberung bereits besetzter Gebiete drohte Putin mit einem nuklearen Krieg. Als er dies sagte, ging es allerdings um die damalige Okkupation der Krim, während die baltischen Staaten Mitglieder des Nordatlantikpaktes sind. Sollte Putin wirklich einen Atomkrieg mit dem Westen riskieren, würde dieser auch sein und Russlands Ende bedeuten.  
    Friedrich-Wilhelm Schlomann

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