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Donnerstag, 4. August 2016

Der Beschluss mit dem Aktenzeichen 2 Rv 150/14 wird das Meinungsklima in der Republik verändern

Viele halten Hans Püschel für einen Geisterfahrer; er selbst sieht sich als Märtyrer. Als jemanden, der verkünden muss, was er glaubt. Und der dafür in Kauf nimmt, strafrechtlich verfolgt und sozial geächtet zu werden.
"Es ist kein Genuss, wenn man wegen seiner Überzeugungen überall Probleme bekommt, sogar in der eigenen Familie", sagt der 67-jährige Kommunalpolitiker aus Sachsen-Anhalt. Aber er werde trotzdem auf seinem eingeschlagenen Weg bleiben: "Ich mache meine Aufklärungsarbeit doch nicht, um mir den Lebensabend zu versauen. Sondern, weil ich die Verantwortung sehe." 

Unter "Aufklärung" versteht er, den Holocaust zu relativieren.
Jetzt hat Püschel Rechtsgeschichte geschrieben. Vor dem Oberlandesgericht (OLG) Naumburg erstritt er einen Freispruch für Behauptungen, die bisher als Volksverhetzung geahndet wurden. Dieser Beschluss mit dem Aktenzeichen 2 Rv 150/14 wird das Meinungsklima in der Republik verändern.
Denn die drei Richter des 2. Strafsenats beurteilten veröffentlichte Aussagen als nicht strafbar, die Paragraf 130 des Strafgesetzbuches in Absatz 3 eigentlich untersagt. Danach wird mit Geld- oder Haftstrafe bestraft, wer "eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung" wie Völkermord "billigt, leugnet oder verharmlost".

In ihrem Freispruch zitieren die Naumburger Richter den maßgeblichen Kommentar: Volksverhetzung sei "ein ausdrückliches quantitatives oder qualitatives Bagatellisieren von Art, Ausmaß, Folgen oder Wertigkeiten einzelner oder der Gesamtheit nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen".

Genau das aber tut Püschel immer wieder. So behauptet er, der Rassenwahn habe gar nicht rund sechs Millionen jüdische Opfer gefordert. Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau habe es einen "Sportplatz" und "ein modernes Krankenhaus mit 60 Ärzten" gegeben.
Und er schreibt: "Die seit Kindesbeinen gelernten deutschen Verbrechen sind Lügen!" Allein in den Passagen, die im Freispruch aufgeführt sind, lassen sich 16 Behauptungen feststellen, die den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen.
"Auch wenn die Richter natürlich im Zweifel für den Angeklagten entscheiden müssen, ist es doch überraschend, wie viel Empathie sie hier aufbringen", sagt Hans-Christian Jasch, der Direktor der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er ist selbst promovierter Jurist und deshalb sachverständig genug, um die Entscheidung des OLG Naumburg einzuordnen: "Der Beschluss lässt auch eine Gesamtwürdigung der Aussagen des Angeklagten vermissen und billigt dadurch typische revisionistische Positionen."

Drei Richter nicht irgendeines Amts- oder Landgerichts, sondern eines Oberlandesgerichts haben sich also auf die Seite eines unbelehrbaren Geschichtsrelativierers geschlagen. Es gibt in der Bundesrepublik nur 24 Oberlandesgerichte, und ihre Urteile haben Gewicht. Künftig dürfte es Richtern an Amts- und Landgerichten noch schwerer fallen als bisher, rechtsextreme Propaganda zu sanktionieren.

Um den Fall zu verstehen, muss man sowohl auf die Biografie des Angeklagten schauen als auch auf die der am Freispruch beteiligten Richter. Hans Püschel wuchs in der DDR auf, arbeitete als Einkäufer einer Schuhfabrik, als Melker und zuletzt als Ingenieur in den Leuna-Werken. Nach der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 baute er in seiner Heimat die SPD mit auf und wurde Bürgermeister einer kleinen Gemeinde.
Für Schlagzeilen sorgte Püschel, als er vor sechs Jahren plötzlich für die rechtsextreme NPD kandidierte. Dieser Seitenwechsel erregte die Gemüter. Seitdem fällt Püschel, inzwischen Chef der dreiköpfigen NPD-Fraktion im Kreistag des Burgenlandes rund um die Domstadt Naumburg, durch Provokationen auf. Die meisten beziehen sich auf die Zeit zwischen 1933 und 1945.

So ist Püschel davon überzeugt, dass nicht etwa Deutschland den Zweiten Weltkrieg angezettelt habe, sondern ganz im Gegenteil als einzige europäische Macht "den Krieg verhindern wollte". Er meint, dass die Verbrechen an Europas Juden maßlos übertrieben würden. In seinem Weltbild sind stets die Deutschen die wahren Opfer. Doch das dürfe seit 1945 niemand mehr aussprechen, beklagt er.
Stattdessen bestimmten die Propagandalügen der damaligen Siegermächte das Leben und Handeln der Bevölkerung. Gegen diese angebliche Manipulation rebelliert Püschel, indem er beispielsweise schreibt: "Wenn wir tausend Betonklötze in die Mitte Berlins stellen für ermordete Juden, dann gehörten doch mindestens dreitausend daneben für ermordete Deutsche."
Zunächst wurde er wegen Volksverhetzung in drei Fällen verurteilt. Erst im Oktober 2013 vom Amtsgericht Weißenfels zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 30 Euro. Dann bestätigte das Landgericht Halle im Juni 2014 das Urteil. Püschel, ein durch und durch rechthaberischer Typ, war außer sich.
Er beschwerte sich, dass unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Meinungsdelikte härter bestraft würden als unter Hitler. Noch im Gerichtssaal rief Püschel: "Waren denn nationalsozialistische Richter die letzten unabhängigen Richter in Deutschland?" Die Sache ging in die Revision zur dritten und letzten Instanz – ans Oberlandesgericht Naumburg.

Bei Fachleuten ruft dessen Beschluss Kopfschütteln hervor. Christoph Jahr, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin und Experte für Antisemitismus, irritiert der "sehr wohlwollende Grundton des Senats gegenüber den Ausführungen des Angeklagten".
Kaum anders als "skandalös" könne man die Argumentation der Richter bezeichnen, die in Püschels Ausführungen zur Opferzahl des KZ Auschwitz "kein verharmlosendes Herunterrechnen" sehen wollen. Ein Verharmlosen liege dann vor, wenn der Angeklagte die "Tatsächlichkeit der NS-Gewalttaten herunterspielt, beschönigt oder in ihrem wahren Gewicht verschleiert". Das aber tue Püschel nicht, meinen die Richter, während Jahr vom Gegenteil überzeugt ist.
Wie konnte das OLG zu so einem Beschluss kommen? Der 2. Strafsenat hat immerhin elf Seiten Begründung geschrieben. Unter dem Dokument stehen die Namen des Vorsitzenden Richters Gerhard Henss sowie seiner Kollegen Thorsten Becker und Dirk Stötter. Sind diese Juristen etwa auf dem rechten Auge blind?

Was auffällt: Der Vorsitzende Richter Henss, 1953 in Detmold geboren, war nach dem Jurastudium in Nordrhein-Westfalen als Strafverteidiger tätig. 1993 wechselte er auf die Richterbank nach Sachsen-Anhalt. Vom Anwalt zum Richter – das ist eher unüblich. Liegt hier ein Grund für die Milde, die der Senat Püschel zuteilwerden ließ? Zuvor hatte Henss schon im Frühjahr 2011 ein Landgerichtsurteil gegen zwei NPD-Funktionäre wegen übler Nachrede aufgehoben.
Allerdings findet sich kein Hinweis darauf, dass Henss selbst eine rechte Gesinnung haben könnte. Vielmehr gilt der Jurist im Kollegenkreis als liberal. 

Das OLG Naumburg lehnt es ab, Fragen zu dem Beschluss zu beantworten – unter Hinweis auf die richterliche Unabhängigkeit.
Was bleibt, ist ein verstörendes Signal. Zumal der Freispruch in einem Bundesland ergangen ist, das als Schwerpunkt rechtsextremer Straftaten gilt. Dabei ist die Zahl der einschlägigen Delikte jüngst deutlich gestiegen. 2015 wurden 1749 solcher Taten registriert, ein Zuwachs um 38,7 Prozent.
Rund sechs von zehn Straftaten sind Propagandadelikte wie das Verwenden verfassungsfeindlicher Symbole oder das Rufen rechter Parolen. Regionaler Schwerpunkt ist der Burgenlandkreis, also genau der Landstrich, in dem Hans Püschel die NPD-Kreistagsfraktion anführt.

Sachsen-Anhalt steht mit diesem Problem in Deutschland aber nicht allein. In der Kriminalstatistik 2015 erreichte das Delikt, das auch Püschel vorgeworfen wurde, ein Rekordniveau: Die Polizei hat 4513 Fälle von Volksverhetzung bearbeitet. Konkret bedeutet dies, dass an jedem Tag des Jahres durchschnittlich zwölf solcher Straftaten registriert wurden.
Hans Püschel sieht sich durch den OLG-Beschluss ermuntert, seine Thesen weiterhin offensiv zu verbreiten. Man habe ihn ja "endgültig vom Makel der Volksverhetzung freigesprochen". Ohnehin ist er davon überzeugt, dass Paragraf 130 Strafgesetzbuch dazu diene, ein ganzes Volk zu terrorisieren: "Der gehört abgeschafft."
Zuletzt hatte der Ostdeutsche seine Ansichten in einem Blog auf der Website "hans-pueschel.info" kundgetan. Doch diese Seite ist seit einigen Monaten offline. 

Püschel bedauert das und sucht einen neuen Betreiber. Auch wenn der Blog nicht mehr direkt aufgerufen werden kann, lassen sich die Inhalte größtenteils rekonstruieren – das Netz vergisst (fast) nichts. Wer sich diese Mühe macht, stößt auf Äußerungen Püschels, die bisher vor Gericht keine Rolle gespielt haben. Dabei dürften sie strafrechtlich viel brisanter sein.
Paragraf 130 sanktioniert nämlich verschiedene Vorwürfe unterschiedlich. Ursprünglich zu einer Geldstrafe verurteilt, dann aber vom OLG Naumburg freigesprochen wurde Püschel wegen Verstoßes gegen Absatz 3, der die Verharmlosung von NS-Verbrechen unter Strafe stellt.

Jedoch sieht Absatz 1 mindestens drei Monate bis fünf Jahre Haft für Täter vor, die den öffentlichen Frieden stören, weil sie die Menschenwürde von gesellschaftlichen Gruppen angreifen, indem sie deren Mitglieder beschimpfen, böswillig verächtlich machen oder verleumden.
Genau das tut Püschel mit "den" Juden. Liest man seine rekonstruierten Ausführungen, drängt sich der Eindruck auf, als wolle er Julius Streicher imitieren, den Gründer des Hetzblattes "Der Stürmer". Wie sonst ließe sich erklären, dass Püschel über "den dubiosen bis bösartigen und für Deutschland verheerenden Einfluss der Juden bzw. des Zionismus auf Deutschland" schwadroniert?

Allen Ernstes behauptet er: "Die Freiheit des Wortes, der Wissenschaft und Lehre ist mit der Machtergreifung der jüdischen Rückkehrer und Umerzieher in Hochschulen und Medien sukzessive ausgemerzt worden." Er spricht von "jüdischem Besatzerrecht", das in Deutschland gelte, und stellt perfide Fragen: "Juden dürfen alles in Deutschland, auch lügen und betrügen? Haben sie unantastbaren Sonderstatus?"
Dass derartige Entgleisungen nicht geahndet werden, ist für jüdische Deutsche nur schwer erträglich. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates der Juden, mag trotzdem keine Richterschelte betreiben. "Selbstverständlich stellen wir nicht die Kompetenz und Unabhängigkeit unserer Gerichte infrage", sagt er.
Zugleich erwarte man aber gerade angesichts des wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland "eine hohe Sensibilität unserer Justiz für alle Versuche, die deutsche Geschichte umzuschreiben oder die NS-Opfer durch eine inakzeptable Verharmlosung der NS-Verbrechen zu verhöhnen".  DIE WeLT

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