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Donnerstag, 4. August 2016

Wir müssen es nur wollen

Die Kritik aus Deutschland an der anti-demokratischen Entwicklung der Türkei ist sehr verhalten. Wegen des Flüchtlingsabkommens? Was Merkel tun könnte, um Erdogan einen Dämpfer zu versetzen.

„Erpressung ist kein Mittel der Politik“, sagt Thomas Strobl, stellvertretender Vorsitzender der CDU. „Deutschland darf sich nicht erpressen lassen“, sagt Sigmar Gabriel, Vizekanzler und SPD-Vorsitzender. „Es bringt jetzt nichts, sich gegenseitig Ultimaten zu stellen und zu drohen“, sagt Frank-Walter Steinmeier. „Es wird keinen Rabatt für die Türken geben“, sagt Günter Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft.
Ganz neu sind solche Sätze, in denen sich Hilflosigkeit und Kraftmeierei mischen, nicht. Im März dieses Jahres hat Wolfram Weimer in einem Kommentar zum Stand der deutsch-türkischen Beziehungen geschrieben, „Erdogan führt die deutsche Bundeskanzlerin regelrecht vor“ und „Erdogan hat ein bitteres Spiel politischer Erpressung begonnen“. Von „Erpressung“ war bereits im Januar dieses Jahres die Rede, als der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu die Kanzlerin in Berlin besuchte, um mit ihr über europäische Hilfen für die Türkei bei der Lösung der „Flüchtlingskrise“ zu beraten.

Bald darauf, im Februar, wurde das Protokoll eines Gesprächs bekannt, das Erdogan mit dem Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, und dem Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, am Rande eines G-20-Treffens im November 2015 geführt hatte. Dabei soll der türkische Präsident gesagt haben: „Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen.“ Neu ist also weder der Tatbestand der Erpressung noch die Empörung darüber. Neu ist allenfalls die Erkenntnis, dass Erdogan am längeren Hebel sitzt und eine Armee von Reservisten befehligt, die er jederzeit in Gang setzen kann.
Es haben eben nicht 30.000 in der Türkei lebende Deutsche, Holländer oder Franzosen für Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte in der Türkei demonstriert, es sind 30.000 türkische Deutsche oder deutsche Türken in Köln zusammengekommen, um „ihren“ Präsidenten als „Helden der Demokratie“ zu feiern, obwohl der grade im Begriff ist, das, was unter seinem Regime von Demokratie übrig geblieben ist, ganz abzuschaffen.

Die absurde Asymmetrie dieser Situation war überwältigend, die Berichterstattung zurückhaltend bis wohlwollend. Da die befürchteten Krawalle ausgeblieben waren, konzentrierte man sich darauf, den friedlichen Verlauf der Kundgebung zu betonen. Immerhin war es gelungen, eine Live-Ansprache des türkischen Präsidenten an seine Landsleute zu verhindern , was dieser nicht nur als persönliche Kränkung, sondern als einen Beweis für die mangelnde Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik beklagte.
Ein WDR-Reporter war dermaßen von dem Geschehen angetan, dass er von einem „identitätsstiftenden Tag für die Deutschtürken mitten in Köln“ sprach, die offenbar in ihrem Alltag keine Gelegenheit haben, identitätsstiftende Erfahrungen zu machen.

Man könnte natürlich sagen: Was sind schon 30.000 Deutschtürken, die „mitten in Köln“ ihrem Präsidenten huldigen – weniger als ein Prozent der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Bürger. Mit der gleichen Logik, mit der auch Terroranschläge kleingeschrieben werden, könnte man dann fortfahren: 99 Prozent der deutschen Türken oder türkischen Deutschen sind nicht für Erdogan auf die Straße gegangen. Kann es einen überzeugenderen Beweis für die Loyalität dieser Gruppe geben?

Das Bild trübt sich etwas ein, wenn man die Frage stellt, warum es angesichts dieser Relationen keine Demo von Erdogan-Gegnern gegeben hat – gegen die Schließung von Redaktionen, Universitäten, Kliniken, gegen die Entlassung und die Festnahme von Richtern, Lehrern und Journalisten. Warum nur die „Jubeltürken“ von ihrem Recht auf Demonstrationsfreiheit Gebrauch gemacht haben und die anderen zu Hause geblieben sind, von den üblichen Verdächtigen, vor allem Kurden, abgesehen?
Eine Antwort auf diese Frage gab es um Mitternacht in den RTL-Nachrichten. Dort hatte man eine Deutsch-Türkin gefunden, die bereit war, sich kritisch über Erdogan zu äußern. Worauf sie von ihren Landsleuten dermaßen „unter Druck“ gesetzt wurde, dass sie die RTL-Leute bat, das Interview mit ihr nicht zu verwenden. Andere Sender dürften ähnliche Erfahrungen gemacht haben, verzichteten aber darauf, sie mit den Zuschauern zu teilen.

Wenn es um Kritik an den Zuständen in der Türkei geht, verbittet sich Erdogan jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes. Umgekehrt kennt er keine Hemmungen, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Seine Platzhalter wollen bestimmen, wie der Umgang der Türken mit den Armeniern in deutschen Schulbüchern dargestellt und wie darüber im Bundestag geredet wird. Der Völkermord an den Armeniern darf auf keinen Fall als Völkermord bezeichnet werden.
Erdogans Religionsbehörde finanziert und kontrolliert über 800 Moscheevereine in Deutschland, sie hat auch mehr als ein Wort bei der Gestaltung des Religionsunterrichts für muslimische Schüler mitzureden. Sie hat einen Staat im Staat etabliert, den sie Schritt um Schritt ausbaut.

Es war ausgerechnet der bedächtige grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kretschmann, dem vor ein paar Tagen der Geduldsfaden gerissen ist, nachdem er vom türkischen Generalkonsul in Stuttgart brieflich aufgefordert wurde, „Vereine, Einrichtungen, Schulen, die nach Meinung der türkischen Regierung von der Gülen-Bewegung... betrieben werden, einer Prüfung zu unterziehen und eine neue Bewertung vorzunehmen“.
Das, so Kretschmann, habe ihn „in höchstem Maße befremdet!" Und: „Genau das werden wir selbstverständlich nicht machen. Hier sollen Leute auf irgendeinen Verdacht hin grundlos verfolgt und diskriminiert werden.“ Ähnlich klar äußerte sich der Grüne Cem Özdemir: „Die Ditib sieht (sich) als Vertreter eines fremden Staates in Deutschland – das akzeptieren wir nicht... Wer Ditib jetzt in die Schulen lässt, der lässt Erdogan in die Schulen.“

Doch das ist längst passiert. Hessen hat vor drei Jahren den „bekenntnisorientierten Islamunterricht an den Grundschulen“ eingeführt, den Lehrplan liefert die Ditib - Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. mit Sitz in Köln. In mindestens drei weiteren Bundesländern sitzen Ditib-Vertreter in Beiräten, die darüber entscheiden, was in den Schulen unterrichtet wird. In diesem Zusammenhang von einer Fünften Kolonne Erdogans zu sprechen, wäre falsch. Es findet auch keine Unterwanderung statt.
Erdogans Funktionäre agieren in aller Offenheit, sie setzen lediglich eine Anweisung vom Chef in die Praxis um: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.“ Wie jeder Despot, der angetreten ist, sein Land zu „retten“, führt auch Erdogan vor, wie man eine Demokratie mit demokratischen Mitteln abschafft. Dazu gehört die organisierte Zustimmung der Massen, die sich mit ihrem Führer solidarisieren, ebenso wie der Kampf gegen fremde Mächte, die das Land „zerstören“ wollen.
Die Opposition im Lande, die den fremden Mächten zuarbeitet, muss aus Gründen der nationalen Sicherheit ausgeschaltet werden. Das Szenario ist immer das gleiche. Die Cafes leeren sich, dafür wird der Platz in den Gefängnissen knapp.

Und weil Europa auf Erdogan angewiesen ist, fallen die Reaktionen verhalten aus. Der Mann sei immerhin demokratisch gewählt worden. Nur nicht weiter Öl ins Feuer gießen, er könnte das Flüchtlingsabkommen mit der EU kündigen! Immerhin hat die Türkei schon 500 Flüchtlinge zurückgenommen!
Aber: Für eine Erpressung braucht es immer zwei. Einen, der erpresst und einen, der sich erpressen lässt. Wenn der Erpresste die Zusammenarbeit verweigert, steht der Erpresser dumm da.
Was könnte Deutschland jetzt tun, um Erdogan einen Dämpfer zu versetzen? Wie wäre es damit: Angela Merkel bietet allen Türken, die seit dem „Putsch“ festgenommen wurden, Asyl an.

Die paar Tausend „Schutzsuchenden“ mehr würde die Bundesrepublik mühelos verkraften, zumal es sich um ausgebildete Fachkräfte handelt, denen man nicht erst beibringen muss, wie man sich in einer säkularen, multikulturellen Gesellschaft benimmt. Erdogan wäre seine Störenfriede los, und wir könnten uns aufrichtig über die Bereicherung freuen.
Wir schaffen das. Wir müssen es nur wollen.   Henryk Marcin Broder



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