Die Kritik aus Deutschland an der anti-demokratischen Entwicklung der
Türkei ist sehr verhalten. Wegen des Flüchtlingsabkommens? Was Merkel
tun könnte, um Erdogan einen Dämpfer zu versetzen.
„Erpressung ist kein Mittel der Politik“, sagt Thomas Strobl, stellvertretender Vorsitzender der CDU. „Deutschland darf sich nicht erpressen lassen“, sagt Sigmar Gabriel, Vizekanzler und SPD-Vorsitzender. „Es bringt jetzt nichts, sich gegenseitig Ultimaten zu stellen und zu drohen“, sagt Frank-Walter Steinmeier. „Es wird keinen Rabatt für die Türken geben“, sagt Günter Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft.
Ganz neu sind solche Sätze, in denen sich Hilflosigkeit und
Kraftmeierei mischen, nicht. Im März dieses Jahres hat Wolfram Weimer in einem Kommentar zum Stand der deutsch-türkischen Beziehungen geschrieben,
„Erdogan führt die deutsche Bundeskanzlerin regelrecht vor“ und
„Erdogan hat ein bitteres Spiel politischer Erpressung begonnen“. Von
„Erpressung“ war bereits im Januar dieses Jahres die Rede, als der
türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu die Kanzlerin in Berlin
besuchte, um mit ihr über europäische Hilfen für die Türkei bei der
Lösung der „Flüchtlingskrise“ zu beraten.
Bald darauf, im Februar, wurde das Protokoll eines Gesprächs
bekannt, das Erdogan mit dem Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude
Juncker, und dem Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, am
Rande eines G-20-Treffens im November 2015 geführt hatte. Dabei soll der
türkische Präsident gesagt haben: „Wir können die Tore nach
Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen und die Flüchtlinge in Busse
setzen.“ Neu ist also weder der Tatbestand der Erpressung noch die
Empörung darüber. Neu ist allenfalls die Erkenntnis, dass Erdogan am
längeren Hebel sitzt und eine Armee von Reservisten befehligt, die er
jederzeit in Gang setzen kann.
Es haben eben nicht 30.000 in der Türkei lebende Deutsche, Holländer
oder Franzosen für Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte in
der Türkei demonstriert, es sind 30.000 türkische Deutsche oder deutsche
Türken in Köln zusammengekommen, um „ihren“ Präsidenten als „Helden der
Demokratie“ zu feiern, obwohl der grade im Begriff ist, das, was unter
seinem Regime von Demokratie übrig geblieben ist, ganz abzuschaffen.
Die absurde Asymmetrie dieser Situation war überwältigend, die
Berichterstattung zurückhaltend bis wohlwollend. Da die befürchteten
Krawalle ausgeblieben waren, konzentrierte man sich darauf, den
friedlichen Verlauf der Kundgebung zu betonen. Immerhin war es gelungen,
eine Live-Ansprache des türkischen Präsidenten an seine Landsleute zu
verhindern , was dieser nicht nur als persönliche Kränkung, sondern als
einen Beweis für die mangelnde Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik
beklagte.
Ein WDR-Reporter war dermaßen von dem Geschehen angetan, dass er von
einem „identitätsstiftenden Tag für die Deutschtürken mitten in Köln“
sprach, die offenbar in ihrem Alltag keine Gelegenheit haben,
identitätsstiftende Erfahrungen zu machen.
Man könnte natürlich sagen: Was sind schon 30.000 Deutschtürken, die
„mitten in Köln“ ihrem Präsidenten huldigen – weniger als ein Prozent
der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Bürger. Mit der gleichen
Logik, mit der auch Terroranschläge kleingeschrieben werden, könnte man
dann fortfahren: 99 Prozent der deutschen Türken oder türkischen
Deutschen sind nicht für Erdogan auf die Straße gegangen. Kann es einen
überzeugenderen Beweis für die Loyalität dieser Gruppe geben?
Das Bild trübt sich etwas ein, wenn man die Frage stellt, warum es
angesichts dieser Relationen keine Demo von Erdogan-Gegnern gegeben hat –
gegen die Schließung von Redaktionen, Universitäten, Kliniken, gegen
die Entlassung und die Festnahme von Richtern, Lehrern und Journalisten.
Warum nur die „Jubeltürken“ von ihrem Recht auf Demonstrationsfreiheit
Gebrauch gemacht haben und die anderen zu Hause geblieben sind, von den
üblichen Verdächtigen, vor allem Kurden, abgesehen?
Eine Antwort auf diese Frage gab es um Mitternacht in den
RTL-Nachrichten. Dort hatte man eine Deutsch-Türkin gefunden, die bereit
war, sich kritisch über Erdogan zu äußern. Worauf sie von ihren
Landsleuten dermaßen „unter Druck“ gesetzt wurde, dass sie die RTL-Leute
bat, das Interview mit ihr nicht zu verwenden. Andere Sender dürften
ähnliche Erfahrungen gemacht haben, verzichteten aber darauf, sie mit
den Zuschauern zu teilen.
Wenn es um Kritik an den Zuständen in der Türkei geht, verbittet sich
Erdogan jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes.
Umgekehrt kennt er keine Hemmungen, sich in die inneren Angelegenheiten
anderer Staaten einzumischen. Seine Platzhalter wollen bestimmen, wie
der Umgang der Türken mit den Armeniern in deutschen Schulbüchern
dargestellt und wie darüber im Bundestag geredet wird. Der Völkermord an
den Armeniern darf auf keinen Fall als Völkermord bezeichnet werden.
Erdogans Religionsbehörde finanziert und kontrolliert über 800
Moscheevereine in Deutschland, sie hat auch mehr als ein Wort bei der
Gestaltung des Religionsunterrichts für muslimische Schüler mitzureden.
Sie hat einen Staat im Staat etabliert, den sie Schritt um Schritt
ausbaut.
Es war ausgerechnet der bedächtige grüne Ministerpräsident von
Baden-Württemberg, Kretschmann, dem vor ein paar Tagen der Geduldsfaden
gerissen ist, nachdem er vom türkischen Generalkonsul in Stuttgart
brieflich aufgefordert wurde, „Vereine, Einrichtungen, Schulen, die nach
Meinung der türkischen Regierung von der Gülen-Bewegung... betrieben
werden, einer Prüfung zu unterziehen und eine neue Bewertung
vorzunehmen“.
Das, so Kretschmann, habe ihn „in höchstem Maße befremdet!" Und:
„Genau das werden wir selbstverständlich nicht machen. Hier sollen Leute
auf irgendeinen Verdacht hin grundlos verfolgt und diskriminiert
werden.“ Ähnlich klar äußerte sich der Grüne Cem Özdemir: „Die Ditib
sieht (sich) als Vertreter eines fremden Staates in Deutschland – das
akzeptieren wir nicht... Wer Ditib jetzt in die Schulen lässt, der lässt
Erdogan in die Schulen.“
Doch das ist längst passiert. Hessen hat vor drei Jahren den
„bekenntnisorientierten Islamunterricht an den Grundschulen“ eingeführt,
den Lehrplan liefert die Ditib - Türkisch-Islamische Union der Anstalt
für Religion e.V. mit Sitz in Köln. In mindestens drei weiteren
Bundesländern sitzen Ditib-Vertreter in Beiräten, die darüber
entscheiden, was in den Schulen unterrichtet wird. In diesem
Zusammenhang von einer Fünften Kolonne Erdogans zu sprechen, wäre
falsch. Es findet auch keine Unterwanderung statt.
Erdogans Funktionäre agieren in aller Offenheit, sie setzen lediglich
eine Anweisung vom Chef in die Praxis um: „Die Demokratie ist nur der
Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.“ Wie jeder Despot,
der angetreten ist, sein Land zu „retten“, führt auch Erdogan vor, wie
man eine Demokratie mit demokratischen Mitteln abschafft. Dazu gehört
die organisierte Zustimmung der Massen, die sich mit ihrem Führer
solidarisieren, ebenso wie der Kampf gegen fremde Mächte, die das Land
„zerstören“ wollen.
Die Opposition im Lande, die den fremden Mächten zuarbeitet, muss aus
Gründen der nationalen Sicherheit ausgeschaltet werden. Das Szenario
ist immer das gleiche. Die Cafes leeren sich, dafür wird der Platz in
den Gefängnissen knapp.
Und weil Europa auf Erdogan angewiesen ist, fallen die Reaktionen
verhalten aus. Der Mann sei immerhin demokratisch gewählt worden. Nur
nicht weiter Öl ins Feuer gießen, er könnte das Flüchtlingsabkommen mit
der EU kündigen! Immerhin hat die Türkei schon 500 Flüchtlinge
zurückgenommen!
Aber: Für eine Erpressung braucht es immer zwei. Einen, der erpresst
und einen, der sich erpressen lässt. Wenn der Erpresste die
Zusammenarbeit verweigert, steht der Erpresser dumm da.
Was könnte Deutschland jetzt tun, um Erdogan einen Dämpfer zu
versetzen? Wie wäre es damit: Angela Merkel bietet allen Türken, die
seit dem „Putsch“ festgenommen wurden, Asyl an.
Die paar Tausend
„Schutzsuchenden“ mehr würde die Bundesrepublik mühelos verkraften,
zumal es sich um ausgebildete Fachkräfte handelt, denen man nicht erst
beibringen muss, wie man sich in einer säkularen, multikulturellen
Gesellschaft benimmt. Erdogan wäre seine Störenfriede los, und wir
könnten uns aufrichtig über die Bereicherung freuen.
Wir schaffen das. Wir müssen es nur wollen. Henryk Marcin Broder
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