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Freitag, 12. August 2016

Hominibus bonae voluntatis



aus Sezession 73 / August 2016

Französiche Intellektuelle haben Ende Juni in der linksliberalen Tageszeitung Libération einen Aufruf veröffentlicht, mit dem sie vor dem radikalen Islam warnten und als Gegenmittel mehr »kulturellen Widerstand« und »republikanische Strenge« forderten. Unterzeichnet hat den Appell auch der algerische Schriftsteller Boualem Sansal (* 1949), der in französischer Sprache schreibt, mit seiner Familie aber bei Algier lebt.

Das ist kein Zuckerschlecken:

Die Stelle eines hochrangigen Beamten im algerischen Industrieministerium verlor Sansal nach der Veröffentlichung seines ersten Romans (Der Schwur der Barbaren, 1999). Außerdem warnt er vor der Pervertierung des Islams. So äußerte er 2011 in einem Interview, diese Religion sei »ein furchteinflößendes Gesetz geworden, das nichts als Verbote ausspricht, den Zweifel verbannt und dessen Eiferer mehr und mehr gewalttätig sind.« Die Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und das Rockkonzert im Bataclan-Theater bewertete er als Konsequenz aus dem Streben des radikalen Islams nach Totalität und Weltherrschaft. In Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert (2013) faßte Sansal seine Kritik zusammen.

Wie das Leben nach dem Sieg eines totalitären Islams sein könnte, schildert Sansal in seinem 2015 erschienen Roman 2084. Das Ende der Welt (der Titel ist natürlich eine Anspielung). Die deutsche Übersetzung erfährt dieser Tage ihre fünfte Auflage, und in Frankreich wurde 2084 bereits im Oktober des vergangenen Jahres mit dem Grand Prix du Roman ausgezeichnet – der Roman ist nach Michel Houellebecqs Unterwerfung binnen eines Jahres der zweite französisch-literarische Blick in eine islamische Zukunft.
Die Unterschiede sind jedoch enorm: Während bei Houellebecq eine gemäßigte Variante des Islams in Frankreich zur Macht kommt, die das Land mit sanftem Druck und finanziellen Anreizen umbaut, ist es bei Sansal eine radikale, totalitäre, entmündigende und ahistorische Religion, die jeden in ein Korsett aus Regeln, Strafen, Denunziation und Beginnlosigkeit einschnürt. Es fallen nirgends die Namen Allah oder Mohammed, auch die Begriffe Koran, Sure oder Scharia tauchen nicht auf; aber es besteht kein Zweifel, daß die Religion im Roman sich die sture Geistferne eines radikal-politischen Islams zum Vorbild nimmt.
Die Hauptfigur Ati ist vielleicht dreißig Jahre alt. Ati glaubt an Yölah, den Allmächtigen, und an dessen Gesandten Abi, und sein Leben vollzieht sich langsam, im Wartezustand, vorzivilisiert. Man arbeitet und betet, nichts ist privat, jeder ist Spitzel und Denunziant, und die Selbstkritik ist eine lebensgefährliche Pflicht, die nicht selten zur grausamen, gottesdienstähnlichen Hinrichtung im Stadion führt.
Das »Leben« wird an sich vergeudet, aber das sieht niemand so, denn entweder wissen die Leute nicht mehr, daß es auch anders sein könnte, oder sie zucken vor der Vorstellung, daß es da eine Entfaltungsmöglichkeit geben könnte, zurück wie eine Hand vor einer glühenden Türklinke. Ati aber öffnet die Tür, in Etappen, schwankend. Hin: »Was sein Geist verwarf, war nicht so sehr die Religion als vielmehr der Druck, den sie auf den Menschen ausübte«, her: »Er fand die Freude wieder, zu glauben, ohne sich Fragen zu stellen«, und dann doch die Gewißheit, »daß der Mensch nur in der Revolte und durch die Revolte existiert und sich entdeckt«.

Und so kommt es dann auch: Ati und sein Freund Koa revoltieren. Sie entdecken die Ghettos einer vorgläubigen, untergegangenen Zeit, sitzen in Räumen, die nicht bis auf einen Gebetsteppich geleert sind, sondern vollgestopft mit Sesseln, Geschirr, Bildern und Büchern, und sie trinken Kaffee und essen echtes Obst und Gemüse, und nicht mehr den mit Psychopharmaka versetzten Einheitsbrei.
Geht es voran mit den beiden? Stoßen sie etwas an? Oder gehören sie als geduldete Gegner und Querschläger zur Systemstabilisierung, weil dieses System lieber ein paar Abtrünnige bekämpft, die es selbst in die Welt stellte? Der Roman antwortet fragmentarisch, verworren. Ati und Koa versuchen, ins Zentrum der Macht vorzustoßen, aber da ist kein Gegner, sondern ein gigantisches Gebäude, ein riesenhafter Apparat, dem nicht beizukommen ist. Das Aussichtslose eines jeden Aufstands sichert die Macht nicht minder effektiv als die wachsame Grausamkeit der Spitzel.
Es bleibt – Resignation: »Was tun, wenn man beim Betrachten der Vergangenheit die Gefahr auf jene zurasen sieht, die uns in der Geschichte vorausgingen? Wie soll man sie warnen?«

Das fragen wir uns heute auch, nicht wahr? Was tun? »Man wird seine Forschungen fortsetzen, davon überzeugt, daß sie eines Tages nützlich sein werden; wenn die Menschen guten Willens fähig sind, sich gegenseitig zu erkennen und zu mobilisieren, werden sie das Material finden, das man so mühsam gesammelt hat.« So eine kleine, blinde Hoffnung kann nur ein Intellektueller formulieren. Was soll er auch sonst tun?
+ Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt, Gifkendorf 2016. 288 S., 24 € – hier einsehen und bestellen!   GK

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